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Thema: „Shōtōkai“ auf Wikipedia – Ein paar Richtigstellungen

  1. #1
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    Standard „Shōtōkai“ auf Wikipedia – Ein paar Richtigstellungen

    Hallo,

    vor einigen Jahren wurde auf der Online-Plattform „Wikipedia“, die sich als freie Enzyklopädie versteht, ein deutschsprachiger Eintrag zum Stichwort „Shōtōkai“ (Link) verfasst und veröffentlicht. Dieser wirft dann und wann inhaltliche Fragen auf. Da ich nicht davon ausgehe, dass diesbezügliche, von mir vorgenommene Änderungen dieses Eintrags auf Wikipedia selbst sinnvoll sind, möchte ich an dieser Stelle kurz auf ein paar der inhaltlichen Fragen eingehen:

    (1) „Shōtōkai“ (vollständig: „Nihon Karate-Dō Shōtōkai“) ist die Bezeichnung von G. Funakoshis (1868–1957) Karate-„Verein“, der 1935 aus einer älteren Gruppierung hervorging. „Shōtōkai“ ist keine Stilbezeichnung! Der Shōtōkai ist ein Verein, in dem verschiedenste Karate-Anhänger Mitglied sind. Die von den Mitgliedern ausgeübte Strömung ist die Shōtōkan-Strömung (Karate-Dō Shōtōkan-Ryū). Verschiedene Mitglieder haben verschiedene technische Vorstellungen entwickelt, d. h. es gibt keinen „einheitlichen“ Stil bzw. keine „Norm“.

    (2) G. Funakoshi war nach eigenen Aussagen in erster Linie Schüler von A. Asato (1828–1906), A. Itosu (1831–1915) bezeichnet er als seinen zweiten Hauptlehrer.

    (3) Der Shōtōkan wurde ab 1938 errichtet, nicht 1935.

    (4) Shōrin-Ryū und Shōrei-Ryū waren um 1900 herum keine „Systeme“ im Sinne von „Stile“ des Karate, sondern Kategorien, um Karate-Neulinge besser einordnen und ihren körperlichen Merkmalen gemäß zielgerichtet unterrichten zu können.

    (5) „Zeit seines Lebens betonte Funakoshi die Nähe der Kampfkunst zum Zen-Buddhismus.“ – Kurzum: Nein, das tat er nicht!

    G. Funakoshi begann mit etwas über 40 Jahren über Karate zu schreiben und veröffentlichte bis in sein Todesjahr hinein Artikel und Bücher zum Thema (was er davor für Meinungen vertrat, weiß ich nicht – und der Wikipedia-Autor schon gar nicht). Darin kann von einer „Betonung“ einer angeblichen „Nähe der Kampfkunst zum Zen-Buddhismus“ keine Rede sein. Selten gebraucht er mal Floskeln aus dem buddhistischen Kanon, was nicht automatisch etwas mit Zen-Texten gleichgesetzt werden sollte und vor allem nicht als Beleg für „Karate = Zen“, sondern vielmehr als normales Sprachverhalten. In Deutschland verwenden auch Atheisten, Agnostiker usw. Zitate aus der Bibel oder Anspielungen auf biblische Themen, ohne dass sie damit christlich sind oder Gottglauben mit ihrer menschlichen Tätigkeit verknüpfen. Sie nutzen sie automatisch, weil es sich um eingebürgerte Floskeln handelt. Noch seltener taucht in seinen Texten die Phrase „Zen und Faust sind eines“ auf. Doch auch das geschieht nicht mit der Botschaft, dass Karate-Anhänger Zen-Jünger werden sollen (oder es jemals waren). Diese Phrase taucht erst Anfang der 1930er Jahre auf und hat mit den spezifischen kulturpolitischen Umständen im damaligen Japan zu tun (und sie wurde von ihm über die nächsten zwanzig Jahre hinweg im Hinterkopf behalten). Zen war nicht Teil seines Karate-Unterrichts/Trainings!

    „Zen“ wurde ab Mitte des 20. Jahrhundert im Westen so eine Art Kult-Begriff. Leute aus der Flower-Power-Kultur (oder Leute die irgendwie davon beeinflusst wurden) begannen mit Karate, setzten sich eine dicke orientalistische Brille auf und verbanden das exotische Karate aus „Asien“ mit allem, was sonst noch so aus „Asien“ kam, wie eben Zen. Diese romantisch verklärten Leute, die in der Karate-Welt z. T. bis heute überlebten, lesen so eine Phrase wie „Karate = Zen“ und schon ist für sie sonnenklar, dass Karate tatsächlich Zen sei. Dass G. Funakoshis Übungsstätte, der historische Shōtōkan (1938–1945), z. B. mit drei Gottheiten des Shintō in Verbindung stand oder dass in seinen Texten Zitate und/oder Anspielungen aus anderen Denkrichtungen zu finden sind, fällt bei solchen Zenisten unter den Tisch, weil sie es gar nicht wissen. Ausführlich zu den diesbezüglichen geschichtlichen Hintergründen siehe „Band II“, S. 86 ff.

    (6) G. Funakoshi führte sein „Gradierungssystem“ für die Verleihung von Rängen und Stufen (Kyū und Dan) nicht auf Druck des Dai Nippon Butokukai ein, es handelte sich eher um eine private Entscheidung um sein Karate „attraktiver“ zu machen. Ausführlich dazu siehe „Band III“, S. 197 ff.

    (7) G. Funakoshi erlaubte und unterrichtete Kumite (Partnerübungen zu zweit oder zu dritt); was er hingegen nicht duldete waren sportliche Wettbewerbe (ausführlich dazu „Band II“, S. 202 ff.).

    (8) Kumite-Wettkämpfe gab es bereits Ende der 1920er Jahre, nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg.

    (9) M. Nakayama (1913–1987) war nicht der „Gründer“ der JKA; er war einfach einer derer, die in der JKA-Gründungszeit mit dabei waren. Erst Jahre später, nach dem Austritt mehrerer Universitäts-Karate-Klubs übernahm er eine technische Führungsrolle in der JKA. („Band I“, S. 172 ff.)

    (10) Der Gedanke, dass S. Egami (1912-1981) ein sogenannter „innerer Schüler“ von G. Funakoshi war, ist eine von westlichen „Experten“ erfundene und breit veröffentlichte Aussage, die aus Unwissenheit entstand und leider falsch ist. G. Funakoshi hatte tatsächlich ein paar Privatschüler, aber das hat nichts mit „inneren Schülern“ (und der damit einhergehenden Annahme, dass besondere Geheimnisse auf sie übertragen wurden) zu tun. S. Egami war ein Schüler unter vielen.

    (11) S. Egami gründete nichts, das den Namen „Shōtōkai-Ryū“ trägt. Auch das ist vermutlich eine Vorstellung westlicher „Experten“.

    (12) „Egami Shigeru blieb mit dem Shōtōkai-Karate dem Geist des am Zen orientierten Karate treu.“ – Leider ist auch dieser Satz mehr als einfach nur problematisch; er ist falsch. „Zen-orientiertes Karate“ (wie auch immer das aussehen soll) ist sicherlich nicht das, was S. Egami (1912–1981) übte und lehrte. Dabei handelt es sich um nichts anderes als die Interpretation eines Westlers, der von der unter Punkt (5) von mir angerissenen Kultur beeinflusst ist.

    (13) S. Egami war nicht der „Leiter“ des „Nihon Karate-Dō Shōtōkai“. Y. Funakoshi (1900–1961) war ab 1958 der „Vorsitzende“ (Kaichō) des Shōtōkai. S. Egami hingegen übernahm bis zu seinem Tod das Amt des Leiters (Kanchō) des zweiten Shōtōkan (1976–2003) in Tōkyō. („Band I“, S. 172 ff.)

    (14) T. Murakami (1927–1987) war eigentlich vom Yōseikan. Als er nach Frankreich eingeladen wurde, geschah dies unter der Prämisse, dass er dort JKA-Karate einführt, weil das zu dem Zeitpunkt von seinem Sponsor als das „Beste“ betrachtet worden ist. Also lernte T. Murakami etwa drei Monate (!) lang um und ging nach Frankreich. Blöd für ihn war, dass ein paar Jahre später gleich eine ganze Gruppe echter JKA-Ausbilder nach Frankreich (bzw. Europa) kam und er ab da nichts mehr zu melden hatte. Da er als Berufs-Karateka Geld brauchte, versuchte er sich danach unter der Ägide des Shōtōkai zu etablieren und übertrieb dabei ein bisschen seine „Beziehung“ zu S. Egami, d. h. eigentlich lernte er kurz von Leuten aus dem Umfeld des Chūō-Klubs, in dem es zu ausgeprägten stilistischen und inhaltlichen Abänderungen hin zu einem tänzerisch-künstlerisch-philosophischen Ansatz kam. S. Egami selbst war in den 1960er Jahren körperlich kaum mehr in Lage, tatsächlich zu unterrichten.

    Dass M. Harada (1928–2021) bereits 1957 von seinem Lehrer, S. Egami, urkundlich zum „Karate-Dō-Lehrer“ ernannt und 1963 nach Frankreich eingeladen wurde, findet im Wikipedia-Eintrag keine Erwähnung. Ebenso wenig wird darin erwähnt, dass er von S. Egami im Namen des Nihon Karate-Dō Shōtōkai urkundlich zum „höchsten Anleitenden in Europa“ berufen wurde. (Kopien dieser Urkunden liegen mir vor.)

    Es gab in diesem Zusammenhang ein paar (ich nenne es mal) „Spannungen“ zwischen M. Harada und T. Murakami, die zur Folge hatten, dass es keine echte Kommunikation mehr zwischen den Anhängern der ersten und der zweiten Gruppe gab. Technisch gab/gibt es zwischen beiden auch keine echten Schnittpunkte.

    (15) Dass T. Murakami ab 1974 (?) als Ansprechpartner der französischen Zweigstelle des Nihon Karate-Dō Shōtōkai fungierte, wird im Wikipedia-Eintrag stark verklärt und wohl politisch motiviert übertrieben pathetisch mit Formulierungen wie „[d]en japanischen Reinheitsgeboten folgend galt es zu verhindern, dass ein Gajin [sic.] (ein Nicht-Japaner, ein Fremder) diese Verantwortung übernahm“. Tatsache ist, dass in der italienischen Zweigstelle und der portugiesischen Zweigstelle des Nihon Karate-Dō Shōtōkai damals jeweils „Nicht-Japaner“ die Ansprechpartner waren und überdies vom Nihon Karate-Dō Shōtōkai in Frankreich neben T. Murakami gleichfalls ein „Nicht-Japaner“ als Ansprechpartner in Frankreich gelistet wurde.

    (16) Die Formulierung „Harada wollte in Frankreich nicht mehr unterrichten“ ist ein Euphemismus für: „M. Harada wurde aufgrund einer Intrige eines japanischen Karate-Geschäftsmanns aus Frankreich ausgewiesen.“ Tatsächlich unterrichtete er bald darauf wieder in Frankreich Karate, und zwar in Gruppen, die nichts mit T. Murakami zu tun hatten.

    (17) M. Harada nutzte keine Bezeichnungen wie „Assistent“. D. h. A. Schneider war gewiss nicht M. Haradas „Assistent“; er gehörte anfangs zu den vielen Interessenten, die bei ihm lernten.

    (18) „Harada ist nach dem Tod von Meister Egami stilistisch mehr oder weniger zu den Formen von Meister Funakoshi zurückgekehrt.“ – Richtiger wäre: „M. Haradas Karate folgte dem von Y. Funakoshi (1906–1945) und S. Egami. Er hat die Neuerungen (Chūō-Stil) verworfen.“ Der chronologisch dritte Vorstandsvorsitzende des Nihon Karate-Dō Shōtōkai und Leiter des Shōtōkan äußerte vor ein paar Jahren in kleiner Runde gegenüber meinem Lehrer, M. Harada, dass es ein Fehler gewesen sei, jene Neuerungen hinzunehmen.

    (19) A. Schneiders Beziehung zu S. Egami lässt sich nicht mittels S. Egamis eigenen schriftlichen Darlegungen überprüfen. Das erwähnte Buch von A. Schneider beruht jedenfalls auf einem Lehrbuch, in dem H. Aoki (geb. 1936) für die Fotos Model stand und den technischen Teil (den Großteil des Buchs) zu verantworten hat. S. Egami lieferte den sogenannten „Hauptteil“ jenes Buchs. A. Schneider selbst ist sozusagen eher Autodidakt.

    Grüße,

    Henning Wittwer

  2. #2
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    Dankeschön

  3. #3
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    Dieser wirft dann und wann inhaltliche Fragen auf. Da ich nicht davon ausgehe, dass diesbezügliche, von mir vorgenommene Änderungen dieses Eintrags auf Wikipedia selbst sinnvoll sind,
    Was spricht denn dagegen, hast du schlechte Erfahrungen gemacht?

  4. #4
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    Zitat Zitat von Kirke Beitrag anzeigen
    Was spricht denn dagegen, hast du schlechte Erfahrungen gemacht?
    Das es eine Schreibautorität bestimmter "Moderatoren" gibt. Ist kein wirklich offenes Machwerk.
    "We are voices in our head." - Deadpool

  5. #5
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    Zitat Zitat von Gürteltier Beitrag anzeigen
    Das es eine Schreibautorität bestimmter "Moderatoren" gibt. Ist kein wirklich offenes Machwerk.
    Ich habe vor einigen Jahren einmal an einem Artikel Änderungen gemacht. Die eine Änderung ging durch, die andere wurde abgelehnt, da sie nicht mit Quellen belegt war. Fand ich ok damals, für einen brandneu angelegten Account.
    Ist natürlich nur anekdotisch. Hab auch schon gehört, dass es nicht immer so gut geht.

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