Seite 1 von 5 123 ... LetzteLetzte
Zeige Ergebnis 1 bis 15 von 71

Thema: Geschichte der russischen Kampfkünste im 20. Jahrhundert

  1. #1
    Registrierungsdatum
    15.01.2004
    Ort
    Land der tausend Hügel
    Alter
    53
    Beiträge
    19.334

    Exclamation Geschichte der russischen Kampfkünste im 20. Jahrhundert

    An alle, die an der geschichtlichen Entwicklung der russischen Kampfkünste interessiert sind: ich habe einen ausführlichen Artikel aus dem Web vom Russischen ins Deutsche übersetzt, weil ich denke, dass er viele offene Fragen beantworten wird

    Das Original befindet sich unter: http://cclib.nsu.ru/projects/satbi/s...atyi/rus1.html

    Der Artikel wurde von einem gewissen Grigorij Panchenko verfasst und 1996 im Magazin "Kempo" veröffentlicht. Den ersten Teil habe ich (noch?) nicht übersetzt, da er sich vor allem mit Stilrichtungen beschäftigt, die bei uns ohnehin nicht sehr bekannt sind.

    Einige Hintergrundinformationen: bei dem "Laurentius Pawlowitsch", der in der Überschrift angesprochen wird, handelt es sich um Laurentius Pawlowitsch Berija, der unter Stalin Chef des NKWD war, des "Volkskommissariates für innere Angelegenheiten" ... der Titel hat also einen gewissen sarkastischen Unterton, wie auch der gesamte Artikel.

    Viel Spaß beim Lesen!

    Trinculo

    P.S.: Für alle Übersetzungsfehler möchte ich mich schon im Voraus bei all denen,
    die in der Lage sind, sie zu entdecken, entschuldigen

    2. Der Stil von Laurentius Pawlowitsch

    Die Offiziersversion des "russischen Stils" sollte man getrennt untersuchen. Ihre Grundlage ist die Schule von A..A.Kadotschnikow. Im Gegensatz zur überwältigenden Mehrheit der “altrussischen” Systeme, ist Kadotschnikows Entwicklung keine Fälschung, sondern nur darauf ausgerichtet, nationalen Empfindungen zu schmeicheln. Sie ist völlig auf der Strasse anwendbar, ebenso wie im Grabenkampf.

    Vermutlich gerade deswegen ruft Kadotschnikows Stil wütende Angriffe seitens vieler "russischer Schulen" hervor. Ihre Attacken beziehen sich besonders darauf, dass es sich um einen rein praktischen Nahkampfstil handelt, der auf keiner tiefsinnigen Theorie ruht. Indessen hat bisher allein Kadotschnikow seine Methoden im Detail veröffentlicht. Also ist in seiner Schule zweifellos ein theoretisches Fundament vorhanden.

    Seine Methode basiert in erster Linie auf Drehbewegungen, um der Linie des Angriffes auszuweichen, und so schmerzhafte Griffe anzubringen (Schläge haben untergeordnete Bedeutung). Der Kampf kann im Stehen oder Liegen geführt werden, in der nahen, der mittleren und sogar der weiten Distanz, obwohl Kadotschnikows System am stärksten an die Bedingungen des stehenden Nahkampfes angepasst ist. Es kennt auch Methoden der Entwaffnung, wobei der Angreifer Mittel einsetzt, die nicht aus dem alten Russland stammen, sondern aus dem zeitgenössischen Arsenal: Messer, automatische Gewehre, Pionierspaten.

    Die Kampfweise erinnert sehr an gewisse Schulen des Jiu-Jitsu (teilweise auch Aikido). Sind diese Ähnlichkeiten zufällig? Kadotschnikow selbst hat nie behauptet, er hätte seine Variante des "russischen Stils" erschaffen. Nach seinen Worten hat er nur die Fertigkeiten, derer sich die russischen Soldaten seit Ewigkeiten bedienen, in ein System gebracht. Aber um absolut ehrlich zu sein, sollte man zugeben: nicht "seit Ewigkeiten", sondern seit ein paar Jahrhunderten weniger ...

    Die Tatsache, dass irgendwelche Kampfkünste in den Kreisen des Militäradels gediehen, macht sie nicht altrussisch, sonst wäre man genötigt, dies auch dem Degenfechten zuzugestehen. Zu Beginn unseres Jahrhunderts erreichte das Jiu-Jitsu Russland, wobei es "von zwei Seiten" kam: vom fernen Osten, durch direkten Kontakt mit Japan, und aus dem Westen – von den Japanern, die in Europa eingetroffen waren. Diese Form der Kampfkunst rief zunächst vor allem im Offiziersstand enormes Interesse hervor, und vor allem durch seine Entwaffnungstechniken.

    Natürlich traf das Jiu-Jitsu nicht auf leeren Raum: seit es in Russland aufgetaucht war, praktizierte man das Boxen, und das griechisch-römische (oder “französische”) Ringen gewann an Popularität . Darüber hinaus erleichterten der Kampf mit dem Bajonett und das Säbel- und Degenfechten, wenn auch nicht das Beherrschen der Techniken selbst, so doch das der Grundbewegungen. Dennoch wurde gerade das japanische Kampfsystem zum Stamm, auf den alle anderen Schulen “aufgepfropft” wurden.

    Strenggenommen fand in den Jahren 1890-1930 in Europa das Gleiche statt, es bildeten sich mehr oder weniger einheitliche "Stile der Spezialeinheiten" für alle Länder heraus. Freilich gab es gewisse Unterschiede: in England wurde der boxerische Anteil starker betont, in Frankreich die Elemente des Savate, bei dem mit den Füßen gekämpft wurde. In Russland gab es natürlich eigene Nuancen. Aber nur in Russland wurde einige Jahrzehnte später der japanische Hintergrund völlig "totgeschwiegen". Man kann den Ursprung zwar, wie bekannt, leugnen, aber man kann ihn nicht loswerden.

    Bereits heute, ein Jahrhundert später, kann in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle nicht mehr bestimmt werden, welche spezielle Spielrichtung des Jiu-Jitsu jeder einzelnen Nahkampfschule zugrunde liegt. Außerdem, obwohl viele dieser Schulen mit ihrer "universalen, einzigartigen, unübertroffenen Kampfkunst" werben, wurden die effektivsten unter ihnen von Anfang an nur im sehr kleinen Kreis gebraucht; es versteht sich, dass unnötige Reklame in einer Reihe von Fällen nur hinderlich war.

    Jede Information darüber erreicht uns bereits stark verzerrt, manchmal in romantisierter Form. Zum Beispiel Gerüchte über den geheimnisvollen "Weißgardisten" (in Wirklichkeit ein einfacher Offizier) "die Kunst des schönen Tötens" etc. Ähnlich sieht es mit der Abstammung dieser Schulen aus, die entweder auf reines, oder "hybrides" Jiu-Jitsu zurückgeht. Es kann sein, urteilt man nach der Erfahrung mit einigen öffentlichen Schulen, dass ihre Spektakularität ihre Effektivität im Kampf übersteigt. Möglich ist natürlich auch die umgekehrte Variante.

    Nicht als der stärkste, nicht als der erste, aber als der bekannteste der "Jiu-Jutsisten" (wie sie damals genannt wurden) im vorrevolutionären Russland sollte Nil Oznobischin anerkannt werden. Seine Gefolgschaft wurde schon ab 1910 ziemlich beeindruckend.

    Oznobischin bekannte sich zum Prinzip des "Allroundathleten". Sein komplexes Kampfsystem, beruhte auf, neben Jiu-Jitsu, englischem und französischem Boxen, "flankierenden" Verfahren (Fechten nicht mit Klingenwaffen, sondern dem Bajonett oder der Pike ) und den europäischen Formen des Kampfes, wie dem zeitgenössischen, damals wiederbelebten "Stadtkampf" des Mittelalters. Der letztere beinhaltete vor allem die berühmten "85 Methoden von Auerswald". Oznobischin lehrte nicht das Führen des "Hilfsmittels" Waffe, sondern das, was er als Gegenmethoden gegen ihren Gebrauch ansah.

    Die Methoden des Jiu-Jitsu, unter anderem aus der Schule Oznobischins, aber nicht nur diese , begann gerade damals die ... russische Geheimpolizei (Ochranka) … zu übernehmen! Für die Polizisten waren sie sowohl für die Entwaffnung von Verbrechern, als auch von "subversiven Elementen" – den Revolutionskämpfern, notwendig. Nil Nilowitsch selbst zog es vor, seine Erfolge auf dem Gebiet der Ausbildung von Polizeispitzeln nicht zu verbreiten [8] und man kann ihn verstehen. In der Tat, in den folgenden Jahren man musste der Geheimpolizei bereits nach sowjetischem Muster Agenten hinzufügen.

    Hüten wir uns, dies zu verurteilen: was blieb zu tun, wenn der NKWD nahezu auf alle Aspekte der Anwendung des Nahkampfes "die Pfote legte "? Wir werden noch sehen, wie sich das auf die Schaffensrichtungen anderer Meister der Kampfkunst auswirkte ...

    Außerdem half die Schule Oznobischins den Tschekisten auch nicht, da sie in einem beträchtlichen Ausmaß lediglich Dekoration war. Die Techniken, die sie schon in den dreißiger Jahren veröffentlichte, lassen darauf schließen, dass die, die ihr System meisterten, sich erfolgreich gegen einen oder sogar mehrere Gegner verteidigen konnten, bewaffnet mit langen oder kurzen Blankwaffen, und manchmal auch Feuerwaffen! [9] Aber gerade deswegen, weil diese Schule, im Vergleich, bis vor kurzem bestand und durchaus nicht geheimgehalten wurde, konnten sich viele Kämpfer daran erinnern, Boxer und andere “Nahkämpfer” dieser Zeit.

    Aus ihren Erinnerungen lässt sich folgendes Bild zusammenfügen: als Oznobischin in der Zeit vor der Revolution die Möglichkeiten seines Systems demonstrierte, nahm er an Schaukämpfen teil - und er trug recht häufig den Sieg davon, nur in solchen Fällen nicht, in denen ein erfahrener Boxer gegen ihn antrat. Damals waren solche Gegner dennoch selten und daher enstand kein Bedürfnis, die Techniken seiner Schule grundlegend zu überarbeiten. Aber nach zwei Jahrzehnten wurde nicht mehr Oznobischin selbst mit diesem Thema konfrontiert, sondern seine Schülern: war der Gegner unbewaffnet, mied ihre Griffe, und verwickelte sie in einen Distanzkampf mit Schlägen – so erwiesen sie sich als nahezu machtlos ...

    Die Schule Oznobischins ließ Schläge nicht außer Acht, aber in seiner Kampftaktik verlegte sich ihr Gründer zu sehr auf das geradlinige Vorgehen, und stützte sich auf den gleichberechtigten Gebrauch beider Hände. Oznobischin bevorzugte die gerade Linie - keine seitlichen Stellungen, und die Arbeit mit "Doppelschlägen", dem gleichzeitigem Stoßen beider Fäuste zu Kopf und Körper des Gegners. In diesem Fall waren die Möglichkeiten zum Selbstschutz sehr begrenzt, was doppelt gefährlich ist, nicht nur im Kampf gegen Boxer, sondern auch gegen bewaffnete Gegner, umso mehr gegen mehrere Gegner.

    Oznobischin gelang es gerade nicht, ein universelles Kampfsystem zu schaffen; er zwang seine Schüler, sich seinem Stil unterzuordnen, der in vieler Hinsicht von seinen körperlichen Eigenheiten geprägt war: hoch gewachsen, lange Gliedmaßen, leicht an Gewicht und ein fast zerbrechlicher Körperbau.

    Und dennoch tat Oznobischin sehr viel: wenn auch weniger als Kämpfer oder gar Lehrer, sondern als Propagandist und Theoretiker des komplexen Nahkampfes. Ausgerechnet zur Zeit der Erschaffung seines Systemes kam der Triumphzug des "Kampfringens", der auf dem Jiu-Jitsu fußte, zum Stehen. Die Mehrheit seiner Anhänger, die weder die besten Lehrer noch die besten Techniken (die sie nur aus zweiter oder dritter Hand erreichten) mechanisch nachahmten, und dazu noch das systematische Training vernachlässigten, war bald überzeugt: in einem Straßenkampf würde ihnen ihre “Schule” wenig helfen.

    Selbst vor diesem ungünstigen Hintergrund aber ließen die öffentlich arbeitenden Meister des effektiven Systems das Feuer der noch erhaltenen Kampfkunst nicht verlöschen. Und warteten, wann das kreative Verständnis käme, das sie zur authentischen SCHULE machen konnte.

    Sie mussten nicht lange warten.

    Einer der ersten, der die neue Form des Zweikampfes kreativ meisterte, war ein Offizier der russischen Armee namens V.A.Spiridonow. [10] Die heutigen Anhänger des "Offiziersstils" verbergen nicht, dass Kadotschnikow, übertragen gesprochen, "Enkel" Spiridonows ist (Schüler seines Schülers). Und die grundlegenden Kampftechniken bezog er nicht durch "Auswertung" der Techniken russischer Kämpfer, sondern von einer Spezialschule des Verteidigungsministeriums, wo die Agenten des Militärgeheimdienstes ausgebildet wurden.

    Spiridonow selbst dachte bis ans Ende der dreißiger Jahre nicht daran, zu leugnen, dass sein System vor allem auf der japanischen Kunst des Nahkampfes basierte. Freilich, dann musste er es tun, aber nicht freiwillig ...

    Alles Gesagte schmälert in keiner Weise Spiridonows Verdienste (auch nicht die Kadotschnikows). In der Tat, sie schufen eine neue Schule des Jiu-Jitsu: originell, mächtig, völlig konkurrenzfähig. Nur, erstens lohnt es sich nicht, auf ihrem hohen Alter zu bestehen, und zweitens, auf ihrer “Ursprünglichkeit”.

    Dem heutigen Leser, muss man wahrscheinlich nicht erklären, wie es Ende der dreißiger Jahre zuging … Damals nämlich begann das Motto "UdSSR – Heimat der Elefanten" an Stärke zuzunehmen, das in vollem Maße bereits nach dem Krieg zutage trat. Obwohl der wesentliche Schlag dem "westlichen" Einfluss galt, wurde Japan in diesem Fall zum "Westen" degradiert. Dies zeigt sich besonders deutlich am Beispiel eines anderen Gründers eines "russischen Stils" – V.S. Oschtschepkow. [11]

    Geboren in Sachalin, verbrachte Oschtschepkow seine Kindheit und Jugend in Japan, wo es ihm gelang, den 2.Dan im Judo verliehen zu bekommen – wobei es sich noch um das klassische Judo handelte, das noch nicht zum sportlichen Zweikampf “europäisiert” worden war. In den zwanziger Jahren arbeitete er im russischen Teil des fernen Ostens, an der Grenze zu China, wo er Bekanntschaft mit einigen Schulen des Wushu machte. Zur gleichen Zeit begann Oschtschepkow, sein eigenes System zu entwickeln. Es basierte vor allem auf dem Judo, doch die Elemente anderer Kampfsysteme wurden harmonisch integriert – aus China, Europa und sogar Amerika (das sog. “Amerikanische Kämpfen", das aufkam an der Nahtstelle zwischen europäischen und ... indianischen Zweikämpfen).

    Einige Jahre später, in der Hauptstadt angekommen, wies Oschtschepkow derart beeindruckende Resultate vor, dass er sogar die Schule Spiridonows verdängte, die zu diesem Zeitpunkt bereits tiefe Wurzeln geschlagen hatte. Die Meister und Stilgründer selbst kamen nicht sehr gut miteinander aus, aber ihre Schüler fanden bald eine gemeinsame Sprache. Oschtschepkow lehnte es, in Gegensatz zu seinem "Kollegen", ab, die östlichen Wurzeln seiner Schule zu verschweigen. Das Ergebnis war, dass man ihn als "Agent des japanischen Militarismus" verhaftete und er wenig später im Gefängnis verstarb. Gerüchten zufolge versuchten "Stalins Falken", ohne richtig zu wissen, mit wem sie es zu tun hatten, ihn zu foltern – und er lieferte seinen letzten Kampf, in dem sie ihn nicht lebend zu fassen bekamen, so sehr sie es auch versuchten ...

    Die von ihm gegründete Schule bestand offiziell weiter: gerade sie wurde zur Grundlage des heutigen Sambo. Aber ihre neuen Leiter (vor allem der berühmte Anatolij Charlampiew [12], eilig zum "Begründer des Sambo" erklärt), erinnerten sich an das Schicksal ihres Lehrers und verwandten ein Höchstmaß an Anstrengung darauf, dass Sambo seine Ähnlichkeit zu den östlichen Kampfkünsten verlor.

    Mit dem Ergebnis, dass es sehr bald aufhörte, überhaupt einer KAMPFKUNST zu ähneln ...

    Natürlich, auch unter den Sambokämpfern dieser Richtung gab es wahre Meister. Zu ihnen zählt zweifellos Charlampiew selbst (obwohl die Rolle, die er in der Geschichte des Zweikampfes während der sowjetischen Zeit spielte, milde ausgedrückt, zweideutig ist). Aber reden wir nicht über sie – sondern über die allgemeine Tendenz.

    Und sie ging dahin, dass sich Sambo später als dem heutigen Judo vergleichbar herausstellte, vergessen wir nicht, nicht nur dem heutigen, sondern dem SPORTLICHEN Judo, das auch von Doktor Kano scharf abgelehnt würde, und heutigen Anhängern des authentischen Judo, von denen es nicht nur in Japan zahlreiche gibt. Doch das heutige Sambo würde ebenso eingestuft (sowohl das Sportsambo, als auch das sogenannte “Kampfsambo”), und auch seine russischen Begründer, unabhängig davon, welcher Schule sie angehören.

    Sicher, Charlampiews Sambo erklärte sich nicht zum “russischen” Zweikampf, sondern gab einer “sowjetischen” Gestalt den Vorzug. Wahrscheinlich berücksichtigte man die Vorlieben des “Führers aller Völker”. Wenn die Theoretiker des Sambo davon sprachen, dass ihr Stil auf der Grundlage der nationalen Kampftechniken der Völker der UdSSR entstand, vergaßen sie nicht, den georgischen Kampfstil Tschidaoba mit besonderer Herzlichkeit zu erwähnen. (Dieser Kampfstil beeinflusste tatsächlich das frühe Sambo – wenn auch nicht in höherem Maße, als das usbekische Kurash, das aserbeidschanische Gurassu, und das armenische Koch. Und in viel geringerem Maße, als das kampforientierte Judo ...)

    Als dann Verweise auf die Kampfstile der sowjetischen Völker aus der Mode kamen, und umgekehrt die Suche nach den altrussischen Wurzeln in Mode kam, rauften sich die Anhänger des klassischen Sambo wohl vor Ärger die Haare aus: sie hatten viel zu häufig auf Zentralasien und den Kaukasus verwiesen, als dass dies bald vergessen werden konnte.

    Dennoch wurden einige Versuche unternommen, Sambo zu “russifizieren”. Zum Beispiel begann man, die Behauptung zu verbreiten, dass A.A.Charlampiew die Grundtechniken trotzdem von seinem Vater übernommen hatte, welcher angeblich ein traditioneller Faustkämpfer war, der altrussische Überlieferungen geerbt hatte. [13]

    Aber der ältere Charlampiew war kein Faustkämpfer, sondern Boxer – übrigens nicht auf sehr hohem Niveau: einige Jahre lang trat er in einem professionellen französischen Ring auf (nein, nicht in Savate, sondern in der französischen Variante des englischen Boxens), wo er sehr durchschnittliche Ergebnisse aufwies, nach dem Maßstab des "Hochleistungssportes" sogar recht passabel. Er hatte das Glück – falls man es Glück nennen möchte – dass er in den Jahren vor der Revolution einer der wenigen Profiboxer in Russland war (es gab bei weitem mehr Amateurboxer). Aber in den Jahren nach der Revolution war der Boxer Charlampiew, Vater des Sambokämpfers Charlampiew, für eine Weile überhaupt fast der einzige "aktive" Vertreter der Tradition dieser Form des Zweikampfes.

    Es kann sein, dass sein Schicksal einen Einfluss auf die Entscheidung seines Sohnes (der am Moskauer Institut für Körperkultur seinen Abschluss machte) ausübte, einen Sportberuf zu ergreifen – aber wirklich auf keinen Fall auf die Bestandteile des Sambo ...

    Im Übrigen sind die sportlich-kämpferischen Aktivitäten von Arkadij und Anatolij Charlampiew – Vater und Sohn, Boxer und Sambokämpfer – recht verwickelt. Lasst uns versuchen, ihre Spitzfindigkeiten zu entwirren.

    Nach der Rückkehr aus Europa in das Land des siegreichen Proletariats (wo er sich einige Jahre aufhielt, nicht wegen seines sportlichen Gastspiels, sondern weil er im Ersten Weltkrieg in Gefangenschaft geriet), arbeitete А.G.Charlampiew eine Weile als Trainer für eine Mannschaft schlecht ausgebildeter Boxer, und besserte seine vielseitige Qualifikation auf. Andere Zweikampfstile außer Boxen interessierten ihn nicht.

    Übrigens, gerade zu jener Zeit äußerte er sich einige Male äußerst respektlos über den volkstümlichen Kampf "Reihe gegen Reihe", über diese barbarische, primitive Erscheinung, von der man wegkommen müsse. Es ist bekannt, dass ihm damals seine Söhne, Anatolij und Georgij, beim Training und bei Schaukämpfen assistierten.

    Nach einigen Jahren änderten sich die Interessen Arkadij Charlampiews. In diesen Jahren blühte eine Erscheinung auf, die recht unverhohlen "Massenzeremonie" genannt wurde: Veranstaltungen großen Maßstabs, die Elemente des Schauspiels, des Spieles, des Trainings, des Gruppenkampfes etc. vereinten... Auf den ersten Blick war das in der Tat ein vielversprechendes Unternehmen, welches die Grundlage liefern konnte, auf der ein neues Verhältnis der Massen zur Körperkultur überhaupt entstehen konnte, insbesondere unter dem Aspekt des Kampfes. (Zu erkennen aber, dass sich hinter diesen "Zeremonien" das bereits erstarkte Streben des Totalitarismus verbirgt, alle Elemente der Kultur, einschließlich der körperlichen, im Rahmen zentralisierter Maßnahmen mit einem allmählich zunehmenden Grad der Militarisierung zu vereinnahmen, war auch in der Tat nicht leicht).

    Charlampiew wählte den Weg der "Massenzeremonie". Es ist schwer, ihn deswegen anzuklagen – gerade so sah er damals den Weg, den selben Weg, von dem man im Osten zu sagen pflegte: der Weg der geistigen Vervollkommnung durch die körperliche. [14]

    Folglich opferte einer der besten Sportler (und Soldaten) jener Zeit im ganzen Land sein gesamtes schöpferisches Potential viele Jahre lang der Förderung gymnastisch-athletische Spiele. Er systematisierte und vollendete erfolgreich eine Reihe von "unkonventionellen" russischen und ausländischen Sportveranstaltungen, von denen die Mehrheit, außer den Aufwärmübungen, Elemente des Kampfes aufwies. Zum Komplex der Fertigkeiten, über die der Teilnehmer der "Massenzeremonie" verfügen musste, traten verschiedene Formen des Wurfes hinzu (Genauigkeit und Kraft des Wurfes), auch in Gruppen – man kann sagen, "Reihen-" – Kampf ... Schon die Bezeichnungen der in den “Zeremonienspielen” praktizierten Übungen sprechen für sich: "Belagerung", "Militärische Pflicht", "Schützenkette im Angriff", "Gefangennahme"...

    Das Spiel "Der Löwe beim Fang" vereinte die Regeln des Fangspiels mit einem Handgemenge schlagend-stoßender Aktionen, wobei Angriffe mit der gleichzeitigen Bewegung beider Hände ausgeführt wurden und die Hände aufeinander gelegt wurden. "Scrimmage-Ball", oder auch "Trödelmarkt", dagegen stellten Charlampiews überarbeitete Variante des einarmiges Rugby dar, bei der sowohl das Führen des Balles, als auch Kampfaktionen nur mit der rechten Hand ausgeführt warden durften. (Das war die einzige Tendenz im Massensport in der frühen UdSSR: durch primitivste Änderungungen, von der beidarmigen Version zur einarmigen, und umgekehrt, "bourgeoise" Formen in "proletarische" zu verwandeln).

    Nicht weniger bemerkenswert war das Spiel "Tapferer Verteidiger". In ihm leistete auch ein Einzelner Widerstand gegen mehrere, indem er im Stand ein bestimmtes Gebiet gegen sie verteidigte: den umzäunten Platz, das Gerüst, den aufgeschütteten Hügel. Bei dieser Verteidigung spielten nicht Schläge die Hauptrolle, sondern Fußfeger und kräftige Stöße – mit der Handfläche, dem Unterarm ... (Falls sich die Techniken des Slawjano-Goritzkaja Borba wenigstens überhaupt in irgendeiner Weise auf etwas stützen, außer der Phantasie ihres Gründers, dann auf diese “Techniken” des "Tapferen Verteidigers" und ähnlicher Spiele. Später hörte die "Massenzeremonie" auf, Massenveranstaltung zu sein; einige ihrer Bestandteile landeten im Militärsport, und in halboffiziellen Jugend- und sogar Kinderspielen des Typs "Wetterleuchten". Von dort konnten sie dann erneut als Überbleibsel volkstümlicher Kampfspiele extrahiert werden. Ja, das waren sie auch tatsächlich; aber, erstens, nicht unbedingt des russischen Volkes – erinnern wir uns an Scrimmage-Ball [15] – und zweitens, im Vergleich zu den wirklich volkstümlichen, mit viel Ernst überarbeitet und bewusst mit kämpferischen Attributen durchtränkt).

    ... Nachdem er viele Jahre mit der Vervollkommnung der "Massenzeremonien" verbrachte, war Arkadij Charlampiew im Endeffekt von ihnen enttäuscht. Enttäuscht deshalb, weil sie, verwandelt zu einer offiziellen Veranstaltung, die reine Augenwischerei war, auch nicht zur Grundlage der Herausbildung eines neuen Stils wurden. Als er sich dessen schließlich bewusst war, kehrte die Koryphäe des russischen Boxens dorthin zurück, wo er seine Tätigkeit begann – zum Boxen. Aber jetzt erwies sich ihm der Rahmen des Boxens als rein sportlichem Zweikampf schon als eng ...

    Die wenigen verbleibenden Jahre seines Lebens widmete Charlampiew, neben der Weiterentwicklung des sportlichen Boxens, der Entwicklung des kämpferischen Boxens. Aber in dieser Angelegenheit hatte er aus einer Reihe von Gründen wenig Erfolg.

    Erstens verfügte Boxen zu diesem Zeitpunkt bereits über ausgereifte Techniken und eine Reihe von Regeln, die praktisch ideal für das sportliche Duell waren. Es war schwer, dieses System zu verbessern, leichter, es zu verderben ... Außerdem zeigt sich folgender Umstand: das Boxen war, zwar nur unter bestimmten Bedingungen, eine hochentwickelte Form des Zweikampfes. Als Charlampiew versuchte, “unboxerische” Methoden zum Angriff und zur Verteidigung, die er in den athletisch-gymnastischen Spielen bei der Armee verwendet hatte, in die Praxis einzuführen, stellte sich heraus, dass diese Methoden im Kampf gegen einen gut ausgebildeten Boxer nicht funktionierten, da der sofortige Knockout drohte.

    Dennoch sieht es so aus, als wären einige Vorschläge von Charlampiew (und nicht nur seine eigenen: er hatte Gleichgesinnte unter den besten Meistern des Boxens) unterschätzt worden. Zum Beispiel wurde vorgeschlagen, ins System vorbereitendes Training (keine Kämpfe gegeneinander) für den Kampf mit dem Bajonett und den kurzen Gymnasikstöcken in der beidhändigen Variante einzuführen – um durch das Arbeiten mit der Waffe gezielt die Wahrnehmung der komplizierten Struktur eines Kampfes zu erweitern. Diese Vorgehensweise hat Parallelen in vielen östlichen Schulen. Zur Erreichung des gleichen Zieles beabsichtigte man, den freien, unbewaffneten Nahkampf ins Training aufzunehmen, basierend auf … den vereinfachten Techniken der Schule Oschtschepkows! Dass nach einigen Jahren die Gründung dieser Schule seinem Sohn zugeschrieben würde, und nach einigen Jahrzehnten ihm selbst, konnte auch Charlampiew nicht ahnen (noch nicht einmal sein Sohn) ...

    Außerdem reifte gerade damals im noch engen Kreis der Meister des inländischen Boxens, in den Charlampiew eintrat, die Idee des Austragens von Gruppenmeisterschaften in speziellen Ringen. Bei diesem Gruppenboxen sollte es sich nicht um Zweikämpfe handeln, sondern um das gleichzeitige Kämpfen einer eingespielten Mannschaft, um auf diese Weise alle Vorzüge der russischen "Reihenkämpfe" zu übernehmen, nicht aber ihre Mängel.

    Dieser Weg der Entwicklung des Boxens als Kampfkunst erschien durchaus machbar und sehr aussichtsreich. [16] Wäre er verwirklicht worden, so wäre nicht einfach eine neue Sportart entstanden. Vielleicht hätten alle damaligen Formen des Zweikampfes in der UdSSR einen starken Impuls erhalten. Und höchst wahrscheinlich hätten sich schon in den dreißiger Jahren äußerst effektive Schulen des praktischen Nahkampfes auf der Basis von Schlag-, nicht Griff- und Wurftechniken, entwickelt.

    Aber hier zeigte sich, das die Phase des Experimentierens abgeschlossen war – sowohl im Sport, als auch überall anders. Die sowjetischen Kampfkünste traten, wie alle anderen Fertigkeiten, in die Phase des "sozialistischen Realismus" ein, der striktes Marschieren nach Dienstvorschrift forderte. Aber seit der Sport zu einem der Instrumente der hohen Politik geworden war, schrumpften die sportlichen und sportnahen Kampfschulen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner.[17]

    Charlampiews Sohn assistierte weiterhin seinem Vater, während dessen Begeisterung für die "Massenzeremonien", und nach dessen erneuter Rückkehr zum Boxen, jedenfalls in den ersten Jahren. Einige der athletischen Spiele, die er während ihrer Verbreitung kennenlernen konnte, gingen auf nationale Kampfformen Asiens und des Kaukasus zurück. Aber sie waren eher vom ethnografischen Standpunkt interessant, als unter dem Aspekt des Kämpfens.

    Bis zum Zeitpunkt der Verhaftung und des Todes von Oschtschepkow war Anatolij Charlampiew, um es so zu sagen, "der jüngste unter den älteren" seiner Schüler. Zweifellos war er ein sehr vielversprechender angehender Meister des "Freistilringens", aber weit davon entfernt, der beste Kämpfer oder gar der beste Lehrer seiner Schule zu sein. Bis in die vierziger Jahren reichte seine Qualifikation nicht einmal dafür, ein vollständiges Nachschlagewerk der Techniken mit einem Anhang methodischer Anweisungen zusammenzustellen. Die ersten Methodiken dieser Art lieferten in diesem Moment besser ausgebildete Meister, die älteren Schüler Oschtschepkows - N.Galkowski, I. Vasiliev, A. Larionow, A. Rubantschik, V.Volkov... der Nachname "Charlampiew" wird nur unter den zweitrangigen Coautoren genannt – die, von denen gesagt wird: "an der Vorbereitung des Buches waren ebenfalls beteiligt:..."

    Weshalb wurde gerade er "offiziell bestätigt" als der Gründer einer Schule der waffenlosen Selbstverteidigung?

    Leider vor allem deshalb, weil er es schaffte, früher und lauter als andere das "westliche"(?) Judo zu beschimpfen und die völlig enzigartigen sowjetischen Verhältnisse zu preisen, wo in der Familie befreundeter Völker eine neue und einzigartige Form des Zweikampfes entstand, und weil er es schaffte, den georgischen Kampfstil noch etwas mehr zu loben.

    Weil er es fertig brachte, im theoretischen Teil seines Unterrichtes äußerst demagogische (übrigens genau das Gegenteil von dem, was er in der Praxis anwandte!) Thesen wie: "Man muss nicht vom System ausgehen, sondern von den Menschen" unterzubringen ...

    Weil schließlich fast alle Meister des Sambo vom Krieg verschlungen wurden - doch Charlampiew landete nicht wegen der für Meister der Kampfkunst schon sprichwörtlichen Formulierung “aus gesundheitlichen Gründen” an der Front. Ja, das Kämpfen brachte ihm in der Vorkriegsperiode einige Verletzungen ein, aber dennoch überstieg der Grad seiner Kampftauglichkeit den des durchschnitt-lichen Einberufenen derart, dass hier unverkennbar die Einmischung "kompetenter Stellen" sichtbar wird ...

    Hinter der Maske der waffenlosen Selbstverteidigung bestand die vermutlich beste der Kampfschulen der Sowjetzeit offiziell weiter, um allmählich mehr und mehr zu einer Art von kaum besserem Sportzweikampf zu degenerieren ...

    Zuerst wurde der Name "Sambo" (früher noch "Samoz") für das System von Spiridonow verwendet. Die Schule Oschtschepkows wurde bald"Ju-do" genannt (damalige Aussprache), bald "Freistilringen". Der letzte Name wurde häufiger für die sportliche Variante gebraucht. Als in der UdSSR das Freistilringen nach olympischen Programm an Popularität gewann (free-style wrestling), wobei es sich, seinerseits, um die sportliche Variante des Catchens handelte – ging der Name von Oschtschepkows Stil darauf über, und er selbst "benannte sich um" nach dem Muster Spiridonows!

    Spiridonows System erwartete genau das umgekehrte Schicksal. Es hörte auf, offiziell zu existieren – aber es wurde weiterhin praktiziert (wenn auch unter der Überschrift "zum offiziellen Gebrauch"). Der Fall lag nicht nur darin, dass Spiridonow bereit war, zu schweigen – wer wagte es, ihn dafür zu tadeln?! – sondern auch darin, dass seine Schule von Anfang an nicht so sehr bei den Offizieren der Armee beliebt war, wie Oschtschepkows, sondern bei der NKVD ... Vorher sprach man mit Stolz darüber. Aber jetzt zog man es vor, überhaupt nicht mehr darüber zu sprechen!

    Die Behörde von Jagod, Eshoba und Berija zog es natürlich vor, z.B. fremde Soldaten zu "durchkämmen" , und nicht ihre eigenen. Außerdem benötigte diese finstere Organisation aus mindestens drei Gründen ihr eigenes Kampfsystem:

    Erstens, um sich selbst zu rechtfertigen. Es wurde sehr bald klar, dass die "Feinde des Volkes" bei der Verhaftung nicht im geringsten den stürmischen Widerstand leisteten, der von erfahrenen Spionen und Saboteuren erwartet werden sollte. Unter diesen Umständen half gerade die Existenz einer eigenen Nahkampfschule, zu zeigen, dass der Dienst "sowohl gefährlich, als auch schwierig" war.

    An zweiter Stelle ... zur Folter! Spiridonows Sambo entlehnte vom Jiu-Jitsu nicht nur die Entwaffnungstechniken, sondern auch das Wissen um die schmerzempfindlichen Stellen des Organismus, deren “Bearbeitung” keine äußerlichen Spuren hinterließ. Auch das System Kadotschnikows bewahrte diese Fertigkeiten, die hauptsächlich nicht im Kampf angewandt warden, sondern in der "forcierten" Befragung. Darüber, freilich, wurde es vorgezogen, nicht zu sprechen. Und drittens – zur Ausbildung von Terroristen. Diese jedoch war das Vorrecht des NKWD, es genügt, sich an die Gruppe von P.Sudoplatowa zu erinnern. So ist es nicht ausgeschlossen, dass unter denjenigen, die vergeblich versuchten, Oschtschepkow in seinem letzten Kampf zu überwältigen, Studenten von Spiridonow waren, und Lehrer Kadotschnikows. Das hätte beiden kaum gefallen. Aber man kann in einem Lied keine Wörter weglassen. Es gibt in dieser Geschichte noch mehr verhängnisvolle Gestalten, wahrhaftig, wir sind noch nicht am Ende angelangt.. Die Sache ist die, dass, einigen Angaben zufolge, Spiridonow unter denen war, die die Verhaftung Oschtschepkows veranlassten.

    In jedem Fall, als sich der Konflikt zwischen ihren Schulen abzeichnete, schlug der letztere vor, ihn auf die selbe Weise zu lösen, wie Jigoro Kano 1886 den Streit zwischen seiner Schule und der des Shinto-Ryu: die Veranstaltung eines Massenturnieres, um die Verdienste der Meister beider Stile zu vergleichen. Wenn wir nach der Einschätzung der Zeitgenossen, die uns überliefert ist, urteilen, bezweifelte fast niemand, dass Oschtschepkow und seine Schüler bessere Chancen auf den Sieg hatten. Doch das Turnier fand nicht statt. Dazu griff Spiridonow auf Mittel zurück, über die er als einflussreicher Angestellter des NKWD verfügte, so war das damals ... Und bald, nachdem sein Gegenspieler in Ungnade gefallen war, folgte die Verhaftung …

    Der "Offiziersstil" in seiner heutigen Form beeinhaltet auch teilweise keine Kampf-, sondern Sabotage- bzw. terroristische Tendenzen. Die Mehrzahl der Techniken sind für Überraschungsangriffe bestimmt, oder umgekehrt zum Schutz vor derartigen Angriffen. Möglicherweise demonstrieren gerade deshalb die Soldaten dieses Stiles mit Vergnügen Schaukämpfe gegeneinander, ziehen es aber vor, das freie Sparring mit den Vertretern anderer Schulen zu meiden. Diejenigen, die Schüler Kadotschnikows waren, verstehen es vielleicht besser, Wachposten auszuschalten als die, die es nicht waren. Aber im offenen Kampf gegen starke, erfahrene Gegner zu bestehen, die auf den Angriff vorbereitet sind, ist weitaus schwieriger. Nicht zuletzt deshalb, weil ihre Schule für die Abwehr leichter, scharfer Schläge nicht ausgerüstet ist, sondern nur gegen harte Schläge mit viel Körpereinsatz.[18]

    Um die Wahrheit zu sagen, dies ist ein allgemeiner Mangel in den meisten Schulen des Jiu-Jitsu. Und es ist ebenfalls der Hauptgrund dafür, dass der wahre Boom der fernöstlichen Kampfstile in den Jahren 1950-х nur im Westen stattfand, seit der “Entdeckung” des Karate und Wushu – kein halbes Jahrhundert, nachdem Europa mit dem Jiu-Jitsu bekannt gemacht wurde. Die europäischen Boxer wurden schnell aufgeklärt, dass man gegen Jiu-Jitsu nicht “mit der Brechstange” arbeiten darf (sonst wird die Energie des Schlages gegen einen selbst verwendet), dann aber “mit der Peitsche". Daher enstand das Bedürfnis nach “komplexen” Kampfkünsten, unter denen die japanischen Stile einen Ehrenplatz einnahmen, doch sie wurden mit vielen anderen ergänzt.

    Natürlich waren Oschtschepkow und Spiridonow nicht die einzigen Schöpfer der komplexen Schule der russischen Kampfkunst. Es gab wiederholt mehr oder weniger erfolgreiche Versuche. Sowohl in den Jahren 1910-20 (der bereits erwähnte N.N. Oznobischin, und mit ähnlicher Technik der "Universalathlet" Iwan Solonewitsch), als auch vierzig und mehr Jahre später (z.B. Т.Каsjanow, der einen Stil entwickelte, in dem sogar bis heute Angehörige der Landungsgruppen ausgebildet werden [19]). Manchmal verbergen die Gründer neuer Schulen ihre Herkunft nicht, aber manchmal versuchen sie sich leider zusätzliche Publicity zu verschaffen ...

    Es ergibt sich ein trauriges Bild. Das Erscheinungsbild der Kampfkünste (fragt sich nur, ob Kampf-?!), die sich heute “altrussisch” nennen, ist wirklich sehr “sowjetisch” geworden. Man könnte einwenden: aber liegt der Fehler bei ihnen? Die östlichen Kampfkünste wurden doch auch wiederholt zu dunklen Zwecken eingesetzt (auch zur Folter); die östlichen Meister übertreiben doch auch häufig, was das Alter ihrer Schulen anbelangt, sie verschleiern auch ihre Geschichte ...

    In der Tat: wer konnte ahnen, wozu eine Person wie Laurentius Pawlowitsch Berija fähig war, die Kampfkunst einzusetzen. Aber man muss daran zweifeln, ob er ohne Spiridonov, dem armen Teufel, so weit gekommen wäre.

    Aber dann hat es auch keinen Wert, zu versichern, wie es jetzt alle Vertreter aller Arten von “russischen Stilen” tun, dass gerade ihr Kampfsystem am geeignetsten für Russen, Ukrainer, Weißrussen ist, während alle anderen Systeme dem Nationalgeist und den Traditionen der Orthodoxie widersprechen (oder, im Gegenteil, dem Heidentum) und überhaupt Ablenkungsmanöver seitens fremder Kulturen sind, nur um von der eigenen wegzuführen. Was aus dem Ganzen "hervorragt" sind deshalb nur die "Sowjetmenschen", mit ihrer verzerrten Psychologie ...

    Anmerkungen:

    [8] Im Übrigen, den uns überlieferten Methoden nach zu urteilen, meisterten die Polizisten nur die Grundlagen des Nahkampfes, die nur für den Kampf mit einem schlecht ausgebildeten Gegner geeignet waren.
    [9] S., z.B., das Buch: Oznobischin N.N. Die Kunst des Nahkampfes. - М.: NKVD RSFSR, 1930. - 228с.
    [10] Spiridonow Viktor Aphanasijewitsch (1881-1943). S. sein Buch "Handbuch der waffenlosen Selbstverteidigung mit dem Jiu-Jitsu-System" (1927) und andere.
    [11] Oschtschepkow Wasiilij Sergejewitsch (1892-1937). Absolvierte Studium des Judo im Kodokan, unter Jigoro Kano. Starb zehn Tage nach seiner Verhaftung.
    [12] Charlampiew Anatolij Arkadjewitsch (1906-1979).
    [13] In unabhängigen Quellen ist es unmöglich, Anzeichen für das hohe Alter einer Familientradition des Nahkampfes, wie bei Charlampiew, zu finden. Ihre Abstammung ist in der Linie des Vaters über den Großvater Anatolij hinaus überhaupt nicht belegt. Und dieser Großvater war kein draufgängerischer Bauer, sondern in der Krankenpflege tätig, was, auch wenn es nicht ausschließt, dass er mit dem Nahkampf vertraut war, die Wahrscheinlichkeit seiner Beteiligung an einem Kampf auf "Meisterschaftsniveau" stark herabsetzt (nach den allgemein bekannten Maßstäben des 19.Jahrhunderts) - soweit man überhaupt davon sprechen kann.
    [14] Nil Oznobischin ließ damals auch gerade von der Propaganda der Massenveranstaltungen zu Sport und Körperkultur mitreißen. Аber wenig später setzte er seine Tätigkeit bereits beim NKWD fort.
    [15] Den Löwenanteil machten Pfadfinderspiele aus, bei denen unter Ausnutzung nationaler Traditionen der sportlichernTätigkeit große Aufmerksamkeit geschenkt wurde.
    [16] Selbst wenn es sich dabei um eine "Wiederholung des Vergangenen" handelte, dann doch auf einer höheren Ebene. Im 18.Jahrhundert waren dem Boxen die Fecht- und Ringkampftechniken noch nicht fremd, auch Fußtritte nicht. So viele Beteiligte wie beim russischen Reihenkampf gab es beim englischen Boxen nie, aber "Gruppenkämpfe" (mit 3-6 Teilnehmern) gab es hin und wieder in den frühen Jahren. Aber die italienische Schule, jedenfalls das sogenannte “Boxen der Gondoliere”, das bereits zu Figgs Zeiten versuchte, mit der englischen zu konkurrieren (die Konkurrenz hielt nicht an, aber die englischen Sieger lernten einiges), kannte die gleichen Teilnehmerzahlen wie die “Reihenkämpfe”.
    [17] Möglicherweise offenbarte sich auch ein argwöhnisches Verhältnis zu einem "Zusammenschluss" derer, die den Kampfkünsten enger verbunden waren.
    [18] Umso mehr muss dies einem das Handeln auf einem solchen überaus wichtigen Gebiet der "Speznas", wie der Auseinandersetzung mit bewaffneten Gegnern, erschweren, umso mehr mit mehreren. Natürlich, wenn sie nicht "ersetzt werden", was wir alles ständig in Schauauftritten der Meister dieses Stiles sehen. Die letzte Tatsache verneinen sie kategorisch, aber sie ist trotzdem für jeden Beobachter, der sich im Zweikampf auskennt, offensichtlich.
    [19] Einer der ersten Lehrer Kasjanows war ... Anatolij Charlampiew, der anscheinend in dessen Leben die gleiche Rolle spielte, wie Arkadij Charlampiew in seinem eigenen: er beeinflusste die “Wahl des Schicksals”, ohne seine Techniken weiterzugeben.
    Geändert von Trinculo (19-11-2004 um 16:31 Uhr) Grund: Tippfehler
    But if they tell you that I've lost my mind
    Baby it's not gone just a little hard to find

  2. #2
    Registrierungsdatum
    03.09.2003
    Beiträge
    1.275

    Standard

    Also da sonst hier keiner Antwortet: Hervorragender und informativer Artikel. Danke Trinculo!! :

  3. #3
    Registrierungsdatum
    15.01.2004
    Ort
    Land der tausend Hügel
    Alter
    53
    Beiträge
    19.334

    Smile

    Zitat Zitat von Ludwig
    Also da sonst hier keiner Antwortet: Hervorragender und informativer Artikel. Danke Trinculo!! :
    Die lesen alle noch

    Danke für die Blumen!

    Beste Grüße,

    Trinculo
    But if they tell you that I've lost my mind
    Baby it's not gone just a little hard to find

  4. #4
    fast tiger Gast

    Standard

    Hi,
    wo kann man diesen russischen Kampfstil trainieren?
    Gibts das irgendwo in der nähe von Aschaffenburg bzw. Frankfurt?
    Wenn ja bitte schreiben.

  5. #5
    Registrierungsdatum
    15.01.2004
    Ort
    Land der tausend Hügel
    Alter
    53
    Beiträge
    19.334

    Smile

    Zitat Zitat von fast tiger
    Hi,
    wo kann man diesen russischen Kampfstil trainieren?
    Gibts das irgendwo in der nähe von Aschaffenburg bzw. Frankfurt?
    Wenn ja bitte schreiben.
    Welchen dieser russischen Kampfstile ?

    Es gibt heute eine Reihe von russischen Stilen, die auf die eine
    oder andere Weise mit den im Artikel angesprochenen verwandt
    sind. Der populärste russische Stil in Deutschland ist sicherlich
    Systema, und unter http://www.rma-systema.de/ findest Du
    weitere Informationen.

    Im Raum Frankfurt/Aschaffenburg sind mir derzeit keine
    Schulen bekannt, aber es sieht so aus, als würde in Wiesbaden
    demnächst eine Trainingsgruppe entstehen.

    Viele Grüße,

    Trinculo
    But if they tell you that I've lost my mind
    Baby it's not gone just a little hard to find

  6. #6
    Maxim707 Gast

    Standard

    Hi ich bin auch daran interessiert!
    Wocher kommst du eigentlich???????
    Russland oder Kasachstan???

  7. #7
    Registrierungsdatum
    10.12.2004
    Ort
    Nahe Bonn
    Alter
    44
    Beiträge
    3.741
    Blog-Einträge
    1

    Standard

    Trinculo, danke für Deine Mühe! Hochinteressant!

    Gruss, Thomas
    Erschrickstu gern / keyn fechten lern

  8. #8
    Andreas Weitzel Gast

    Standard

    Zur Zeit gibt es mehrere Systema-Interessenten, die aus dieser Gegend kommen. Ich denke, daß es auch dort bald eine Gruppe mit einem regelmäßigen Training entstehen wird.

    Gruß
    Andreas

  9. #9
    Registrierungsdatum
    14.12.2005
    Beiträge
    2.974

    Standard

    hab den Text nur angelesen, (ich drucke ihn gerade aus) aber vorab schon mal Danke für die Übersetzung......

    Achso, (offtopic) falls da gerade Sambo- Jungs hier im thread unterwegs sind. Ich wollte mir ein Buch über Sambo bestellen, weiß aber nicht ob das was taucht.

    W.M. Andrejew und E.M. Tschumakow - Sambo der kraftvolle, russische Kampfsport

    kennt das jemand oder kann was dazu sagen
    I Love Schiuschitsu

  10. #10
    Andreas Weitzel Gast

    Standard

    Zitat Zitat von re:torte
    hab den Text nur angelesen, (ich drucke ihn gerade aus) aber vorab schon mal Danke für die Übersetzung......

    Achso, (offtopic) falls da gerade Sambo- Jungs hier im thread unterwegs sind. Ich wollte mir ein Buch über Sambo bestellen, weiß aber nicht ob das was taucht.

    W.M. Andrejew und E.M. Tschumakow - Sambo der kraftvolle, russische Kampfsport

    kennt das jemand oder kann was dazu sagen
    Es ist ein sehr gutes und informatives Buch. Dort werden viele Aspekte des Sambo-Ringens erläutert, unter anderem Würfe, Festhaltegriffe, Hebelgriffe, Prinzipien beim Aufbau von Groffkombinationen, Trainingsmethodik, Fallschule, Kraft- und Konditionstraining, Organisation und Durchführung des Sambo-Unterrichts und viel mehr. Hier kannst du das Buch bestellen: http://www.rma-trading.de

    Gruß
    Andreas

  11. #11
    Sam Fisher Gast

    Standard

    Ich hätte jetzt erwartet, dass dieser Thread einschlägt, wie ne Bombe.

    Da wird doch schön feinsäuberlich erklärt, dass das meiste (wenn nicht sogar alles), was wir da von Sambo, Systema und Co erzählt bekommen, erstunken und erlogen ist.

    Ist aber kein russisches Phänomen....Chinesen und Europäer sind da ganz genauso.
    Man braucht diese ganzen Geschichten und diesen Esoterik-Hokuspokus doch gar nicht. Wenn ich den Vasiliev so sehe, spricht das alles für sich selbst. Das ist Kampfkunst auf allerhöchstem Niveau.

    Warum sind sich die Leute nie selbst genug?

  12. #12
    Registrierungsdatum
    14.12.2005
    Beiträge
    2.974

    Standard

    ok danke - dann bestell ich das gleich
    I Love Schiuschitsu

  13. #13
    Andreas Weitzel Gast

    Standard

    Zitat Zitat von Sam Fisher
    Ich hätte jetzt erwartet, dass dieser Thread einschlägt, wie ne Bombe.

    Da wird doch schön feinsäuberlich erklärt, dass das meiste (wenn nicht sogar alles), was wir da von Sambo, Systema und Co erzählt bekommen, erstunken und erlogen ist.

    Ist aber kein russisches Phänomen....Chinesen und Europäer sind da ganz genauso.
    Man braucht diese ganzen Geschichten und diesen Esoterik-Hokuspokus doch gar nicht. Wenn ich den Vasiliev so sehe, spricht das alles für sich selbst. Das ist Kampfkunst auf allerhöchstem Niveau.

    Warum sind sich die Leute nie selbst genug?
    "Wie eine Bombe" Der Artikel am Anfang des Threads stammt aus einem Buch, dessen Autoren sich zur Aufgabe gestellt haben, die Geschichte aller Kampfkünste der Welt zu beschreiben und dabei zu beweisen, daß alle kampfkünste der Welt aus dem Fernosten kommen. Ein interessantes Vorhaben, nicht wahr?

    Gruß
    Andreas

  14. #14
    Sam Fisher Gast

    Standard

    Das Buch heißt ja auch "Kempo".....

    Nein sicher kommt nicht alles aus dem Fernen Osten. Ganz sicher nicht!
    Aber mal ehrlich....so die ganzen Storys bei euch im Systema.....ich glaub das meiste nicht. Sorry!

    Missversteh mich nicht...Im Gegensatz zu vielen Usern hier, find ich euer System richtig gut. Es ist durchdacht und in sich geschlossen. Das können nur wenige Kampfsysteme von sich behaupten. Aber ich find halt diese ganzen Geschichtlein super unglaubwürdig.

    Würde sich da einer hinstellen und sagen: " Leute! SYSTEMA, so wie wir es heute kennen, ist im Rahmen der Speznaz in den Jahren 1920 bis 1965 entwickelt worden. Es hat Elemte europäischer (Boxen,Ringen) russischer (was auch immer) und asiatischer Kampfkünste (Judo, aikido, Kung Fu). Dieser Hybrid hat allerdings schnell durch die Konsequnten Forschungen von Dr. Aleksej .... und Prof. Vladimir........ein völlig eigenes Gesicht bekommen. An Wirksamkeit vor allem beim Einsatz von Waffen gibt es nichts vergleichbares.....bla, bla, bla...."

    So was würd ich dann glauben.

  15. #15
    leopan8 Gast

    Standard

    Hy

    Ich finde das Systema Legenden, genauso wie auch Kampfkunst Legenden aus anderen Ländern, der klägliche Versuch sind eine Kampfkunst/sport aufzuwerten!

    Sicherlich gab es in Russland und den von Russland versklavten Ländern eigene alte Kampfsportarten/Künste.
    Das jedoch Systema eine uralte Kosaken Kampfkunst ohne beeinflussung von japanischen Systemen(Aikido,Judo,JuJutsu usw.) ist muss erstmal bewiesen werden.

    Gruss
    leopan8
    Geändert von leopan8 (17-01-2006 um 15:06 Uhr)

Seite 1 von 5 123 ... LetzteLetzte

Aktive Benutzer

Aktive Benutzer

Aktive Benutzer in diesem Thema: 1 (Registrierte Benutzer: 0, Gäste: 1)

Ähnliche Themen

  1. Schaschka ohne Parierstange
    Von faB* im Forum Europäische Kampfkünste
    Antworten: 135
    Letzter Beitrag: 14-04-2008, 09:02
  2. Russen in Japan
    Von FireFlea im Forum Europäische Kampfkünste
    Antworten: 194
    Letzter Beitrag: 07-05-2005, 13:49
  3. neues Forum für europäische Kampfkünste
    Von Sebastian im Forum Board Regeln und Board News
    Antworten: 1
    Letzter Beitrag: 27-02-2004, 15:05
  4. Zweifel an Systemas Geschichte
    Von Moritz im Forum Europäische Kampfkünste
    Antworten: 284
    Letzter Beitrag: 06-01-2004, 12:06

Forumregeln

  • Neue Themen erstellen: Nein
  • Themen beantworten: Nein
  • Anhänge hochladen: Nein
  • Beiträge bearbeiten: Nein
  •