Gedanken zur Philosophie in den Kampfkünsten
Nachdem die verschiedenen Teilnehmer der begonnenen Philosophie-Debatte sich in höchst engagierten Grundübungen der gegenseitigen Zurechtweisung, der Argumenationsführung und dem Stellen von psychologischen Ferndiagnosen aufeinander zubewegt haben, scheint es mir möglich, eine Diskussion zu Basisfragen der Philosophie in den Kampfkünsten einzuleiten.
Ich würde eine rege Beteiligung an dieser Debatte auch von jenen Forumsteilnehmern begrüßen, die die Verknüpfung von Philosophie und Praxis ablehnen, denn ich denke, daß die meisten Streitigkeiten weniger auf inhaltlichen Aspekten beruhen, sondern vielmehr von Begriffen ausgehen, die so benutzt werden, als hätten sie allgemeingültige Bedeutung, obwohl sie eigentlich von jedem anders interpretiert werden. Allein der Begriff "Philosophie" wird sehr unterschiedlich gedeutet, für den einen ist es eine praxis- und lebensfremde geistige Aktivität, für den anderen die mentale Durchdringung und Auseinandersetzung mit ganz konkreten Fragen des täglichen Lebens.
Ein für mich wesentlicher Aspekt der asiatischen Geisteskultur liegt in der Auffassung, daß die Realität nicht exakt mittels wissenschaftlicher Methoden dargestellt oder beschrieben werden kann. Der moderne Aberglaube vieler Menschen innerhalb der westlichen Zivilisation besteht darin, daß man durch "exakte" Wissenschaft etwas über das Universum, den Menschen oder das menschliche Leben ansich aussagen könne.
Eine wissenschaftliche Abhandlung - beispielsweise zum Thema: "Wie funktioniert das Universum?" - operiert jedoch zwangsläufig mit Größen, die lediglich gewisse isolierte Aspekte der tatsächlichen Realität aus- und bewerten. Obwohl heute jedem Wissenschaftler absolut klar ist, daß er an einem Modell der Realität forscht, das mit eigentlichen Wirklichkeit nicht viel zu tun hat - und auch gar nicht viel zu tun haben kann -, ist den meisten wissenschaftlichen Laien diese Tatsache nicht bekannt. Die Ära der Aufklärung, in der religiöse oder spirituelle Vorstellungen beherzt über Bord geworfen wurden, führte dazu, daß sich die Mehrheit der modernen Zivilisation mit der vermeintlich objektiven Wissenschaft im Besitz des Schlüssels zur Wahrheit wähnte, selbst wenn immer mehr prominente Wissenschaftler dies zunehmend auch öffentlich bestritten.
Das Ganze läßt sich an einem konkreten Beispiel sehr leicht illustrieren. Das Wort "Baum" weist auf etwas, das mit speziellen Merkmalen ausgestattet ist, die wir wahrnehmen können (Form, Größe, Oberflächenbeschaffenheit etc.) und dann im Wort "Baum" zusammenfassen. Eine Kategorie weiter kann man dann speziellere Merkmale erfassen, wie z.B. die Blattform und benennt Gruppen mit einer Ähnlichkeit in diesen spezielleren Merkmalen dann "Laubhölzer" oder "Nadelgehölze" etc. Noch einen Schritt weiter klassifiziert man "Tannen", "Fichten", "Eichen" etc. Doch egal wie weit man all diese Klassifizierungen treibt, der Name (also das Wort), ist immer nur ein Deuten auf etwas, das in der Wirklichkeit viel mehr ist. Auch wenn ich einen Baum in einem Wald nach allen botanischen Regeln klassifiziert habe, kann ich mir nicht einbilden, ich hätte dieses Ding nun in seiner ganzen Wirklichkeit erfaßt. Dies ist unmöglich, denn wir ordnen die von uns wahrgenommene Wirklichkeit lediglich in einem System, das Unbekanntes mit Bekanntem vergleicht und dann Ähnlichkeiten oder Unterschiede feststellt. Inhalte, für die wir keine Worte haben, können nicht identifiziert werden - jedenfalls in der Wissenschaft nicht. Wenn die Wissenschaft auf Phänomene trifft, die ihr bislang unbekannt waren, erfindet sie neue Worte, um diese Phänomene in das bestehende System einzugliedern. Das ist nicht nur legitim, sondern auch äußerst praktisch, hat aber mit der tatsächlichen Wirklichkeit nicht viel tun.
Dieser Exkurs schien mir wichtig, um den Unterschied zur asiatischen Geisteskultur - so wie ich sie verstehe - deutlich zu machen. Im Gegensatz zur analytischen Tradition Europas verwendet man in Asien Bilder, um auf komplexe Zusammenhänge zu deuten und eine Auseinandersetzung zu ermöglichen, die Theorie und Wirklichkeit nicht miteinander verwechselt. So ist beispielsweise das Yin - Yang Modell des altchinesischen Daoismus eine Annäherung an die Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit aus der Perspektive des Menschen, der seinen Platz in diesem Universum sucht.
Die Lehre (Philosophie) von Yin und Yang ermöglicht es dem Individuum, sich im Chaos der alltäglichen Begebenheiten zu orientieren und zwar im Hinblick auf die Frage, was zu tun ist, um das zu erreichen, was man erreichen will. Philosophie ist immer zweckgebunden, der Zweck asiatischer Philosophie ist in der Regel, den Menschen zu einer Lebensweise anzuregen, die eine Harmonie zwischen den Menschen (sozialer Lebensraum), zwischen Mensch und Universum (natürlicher Lebensraum), zwischen Geist und Körper (individueller Lebensraum) etc. fördert.
Neben der Lehre von Yin und Yang existieren viele weitere Modelle (z.B. die Lehre der Fünf Elemente), die das Wirken der Realität zwar nicht exakt beschreiben, aber einen intuitiven Zugang, eine Orientierung ermöglichen. So verhält es sich auch mit den Philosophien, die den Hintergrund vieler traditioneller Künste darstellen. Als Beispiel möchte ich das Go-Spiel nennen, ein dem Schach in seinen kombinatorischen Möglichkeiten weit überlegenes Spiel, das sich in China aus einer Orakeltechnik entwickelt hat und dann zur umfassenden Analogie militärischer und spiritueller Zusammenhänge ausgebaut wurde. Die Prinzipien, die ein Spieler des Go erlernen muß, um siegreich zu spielen, sind Prinzipien des vernünftigen menschlichen Verhaltens in einer komplexen, letztlich nicht erklärbaren Welt.
Eine wesentliche Eigenschaft all dieser Philosophien besteht für mich darin, daß sie nicht durch ein lediglich theoretisches Studium angeeignet werden können, sondern in der bewußten Auseinandersetzung, die alle Bereiche des Lebens umfaßt, verinnerlicht werden müssen, um wirksam, d.h. nützlich zu sein.
An dieser Stelle will ich nocheinmal diejenigen ansprechen, die Philosophie in den Kampfkünsten für ein theoretisches Beiwerk halten, das am eigentlichen Leben vorbeigeht. Ein rein theoretisches Befassen mit dieser von uns Europäern als Philosophie bezeichneten geistigen Schule, hat nichts mit der eigentlichen Intention asiatischer Philosophen zu tun, sondern ist wiederum lediglich für Wissenschaftler (z.B. Kulturhistoriker) von Interesse, die jenes ALTE WISSEN beschreiben, kartographieren und verwalten, nicht jedoch selbst leben.
Im Gegensatz zur Lebendigkeit der asiatischen Philosophie, die den Menschen immer auch als Teil dessen, was er beobachtet begreift, trennt die Tradition der westlichen Philosophie den Menschen (Beobachter) vom Universum (dem Beobachteten), gerade so, als könne man bei genügender Distanz soetwas wie eine objekte Wahrheit resümieren. Kennzeichnend für diese Haltung ist die bereits in der griechischen Antike exzessiv betriebene Suche nach der sogenannten ERSTEN URSACHE. Nach chinesischem Denken ist die Suche nach der ersten Ursache jedoch zweitrangig, denn es begreift die Entfaltung von Ereignissen und Erscheinungen als induktiven Vorgang, der nicht Folge eines äußeren Impulses ist, sondern aus der Tatsache resultiert, daß allen Phänomenen eine bestimmte Funktion innerhalb des universellen Kreislaufs zukommt.
Diese Funktion determiniert die Erscheinung, nicht die vorangegangenen Aktivitäten und Impulse anderer Phänomene. Die Bewegung des Universums ist nicht von einer ersten Ursache, einem Schöpfer abhängig, sondern stellt die dynamische Entwicklung zyklischer Muster dar. Deshalb geht es in der Suche nach Erkenntnis auch nicht um eine Art höheres Wissen, nicht um die Schau einer abstrakten Wahrheit, die man in einer Erkenntnislehre mit wissenschaftlichen Methoden zusammenfassen könnte, sondern um die authentische Wahrnehmung von Mustern und dem Verständnis ihrer Wechselwirkungen.
Selbstverständlich wird die Intelligenz dieser Auffassung in der Neuzeit von westlichen Philosophen anerkannt, denn mittlerweile hat sich auch hierzulande die Erkenntnis durchgesetzt, daß jede Beschreibung der Welt immer eine subjektive sein muß und die Frage nach der ersten Ursache eine Frage danach ist, was wir wir als erste Ursache zu definieren bereit, willig und in der Lage sind.
Vereinfacht zusammengefaßt: Asiatische Geisteskultur benutzt Bilder und Analogien um auf die Wirklichkeit in all ihren manifesten aber auch potentiellen Erscheinungsformen zu deuten, europäische Geisteskultur nutzt wissenschaftliche Formeln, um die Wirklichkeit möglichst exakt zu beschreiben.
ENDE TEIL I