Die „Seidenübungen“ und die „Stehende Säule“
In Hamburg fand ein großer Taiji-Lehrgang mit Großmeister Chen Xiao Wang und Meister Jan Silberstorff, den WT-lern bekannt als Gastkommentator in Großmeister Kernspechts Buch „Der Letzte wird der Erste sein“, statt. Die beiden WingTsun-Lehrer Sifu Frank Aichlseder, 3. TG, und Mirko Kannenwischer, 3.TG, nahmen an diesem Lehrgang teil, um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen ihrem eigenen Stil und Taijii zu vergleichen.

Die beiden Übungssysteme „stehende Säule“ und „Seidenübungen“ bilden die Grundlage und Wurzel des Chen-Stil Taijiquan von Großmeister Chen Xiao Wang. Gemäß der Einsicht, dass es viele Techniken gibt, aber nur ein Prinzip, strukturierte Großmeister Chen das Training so, dass die Schüler stets zuerst erlernen, wie sie ihre Struktur so ausrichten, dass der Körper immer aufrecht, entspannt und auf seine Mitte ausgerichtet ist. Das Mittel dazu ist die „stehende Säule“, eine Übung, bei der die Übenden nichts anderes tun, als aufrecht und gesunken zu stehen. Das „Sinken“ ist im Taijiquan ein wichtiger Aspekt, der die Stabilität des Körpers gewährleistet. Bedeutend ist auch die ständige „Teilung“ des Körpers in Yin und Yang. Während der „stehenden Säule“ ist der Körper im Stand fest (Yang) und im Oberkörper locker (Yin). Im Alltag ist dies oft andersherum, was zu Haltungsschäden führen kann.
WT-lern sind ähnliche Vorgaben aus der Siu-Nim-Tau bekannt. Auch hier lernt der Schüler die feste Verwurzelung mit dem Boden. Der Unterkörper steht fest, der Oberkörper hingegen sollte leicht und nachgiebig sein. Ebenfalls ist durch den I.R.A.S. ein Absinken des Körpers gegeben.
Die Siu-Nim-Tau ist im WingTsun wie die „stehende Säule“ des Taiji als elementares Grundgerüst des jeweiligen Stiles zu sehen.
Die sogenannten „Seidenübungen“ sind, nachdem der Schüler seinen Körper strukturiert hat, der nächste Schritt. Die Struktur wird in Bewegung gesetzt. Dabei erfährt der Schüler, dass schon die kleinste Bewegung die Struktur des Körpers total verändert. Die Kunst besteht also darin, seinen Körper bei jeder kleinsten Bewegung wieder neu auf seine Mitte auszurichten. Die vorgeschriebenen Bewegungsabläufe der Seidenübungen helfen dabei. Zudem unterstützen sie durch bewusste Führung der Aufmerksamkeit die Wahrnehmung des Energieflusses durch den Körper.
Im WingTsun ist den Seidenübungen konzeptionell am ehesten die Cham-Kiu gleich zu setzen. Auch hier werden bereits gelernte Bewegungsmuster durch die Koordination von mehreren Gelenken (Hände, Arme, Beine) in ein Zusammenspiel gebracht.
In einer angenehmen und ruhigen Atmosphäre wurden die Übungen von den Teilnehmern aufgenommen und praktiziert. Man hatte stets das Gefühl unter „Freunden“ mitzuwirken. Die besondere positive Ausstrahlung der beiden Dozenten beeindruckte den ganzen Abend lang. Eines wurde uns schon nach den ersten Minuten der „Seidenübungen“ klar: eine konzeptionelle Ähnlichkeit zu unserem WingTsun lässt sich nicht leugnen. Beim WingTsun sowie im Chen Xiaowang Taiji geht es um weiche nachgebende Bewegungsmuster. Von der Gesamtkörperstruktur wurden wie beim WingTsun alle Extremitäten miteinbezogen. „Mach dich frei von deiner eigenen Kraft“, konnte hier optimal umgesetzt werden. Auch die langsame Ausübung der Bewegungsabläufe ähneln der des WingTsun ziemlich stark. Für uns WT-ler ist ein strukturiert langsames Einüben unserer Sektionen ebenfalls unerlässlich auf dem Weg zum Erfolg.
Alles in allem wurde immer wieder deutlich, wie nah die Verwandtschaft zwischen den beiden Stilen ist und wie sehr sie dennoch voneinander verschieden sind.