Chi-Sao (allgemeine Prinzipien)

Die Reflexhandlung

(in dieser allgemeinen Erklärung über das gesamte Chi-Sao-System im WT wird sich darauf beschränkt, das Thema Reflexe populär und allgemeinverständlich darzustellen. In seinem Buch „Vom Zweikampf“, Wu-Shu-Verlag, geht Keith R. Kernspecht wissenschaftlich auf die Wirkungsweise der WT-Spezifischen Reflexe ein).

Die wichtigste Übung im Wing Tsun ist Chi-Sao (Klebende Arme). Diese Partnerübung soll schnelle Reflexe hervorbringen, die dann die ausgeklügelten Kampftechniken wie von selbst entstehen lassen. Die Reflexhandlung ist eine unbewußte Reaktion auf einen unerwarteten Reiz. Wenn z.B. jemand unerwartet mit einer Nadel gestochen wird, wird er wahrscheinlich aufschreien oder eine schnelle Bewegung machen, um der Quelle des Schmerzes zu entgehen. Im Falle eines plötzlichen Angriffes, etwa eines Fauststoßes, würde er wahrscheinlich erschrocken zurückweichen. Diese Beispiele (Schreie, Zurückweichen) sind typisch für unbewußte Reflexhandlungen. Sie wurden nicht vorher geplant und sind nicht das Ergebnis bewußten Nachdenkens. Reflexhandlungen gibt es nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Tieren. Da die Menschen nicht alle gleich sind, gibt es Menschen, die schnellere Reflexe haben als andere. Tatsächlich gibt es Leute mit sehr schnellen Reflexen, aber auch solche mit extrem langsamen. Der Zweck des Chi-Sao-Trainings ist es also, beim Übenden eine schnelle Reaktion hervorzubringen, eine Reaktion, die viel schneller ist als die eines Durschnittsmenschen (dennoch ist man nicht unantastbar...!). Es geht dabei um eine gezielte Reaktion, die geignet ist, eine Kampfsituation für uns zu entscheiden. Und zwar, ohne das wir dabei vorbereitet sein müssen, ohne das wir nachdenken müssen. Viele Leute werden in einer körperlichen Auseinandersetzung die Erfahrung gemacht haben, daß sie keine Zeit hatten, über ihre Abwehr und/oder Angriffsaktion nachzudenken. Denn dazu gibt uns der Gegner keine Gelegenheit. Deshalb gibt es auch leider so viele Kampfsportler, die schon seit 8 oder 10 Jahren Abwehr-und Gegenangriffsmethoden üben, aber diese Bewegungen in einem richtigen Kampf nicht so anwenden können, wie sie gerne möchten. Der Grund ist: Sie haben es nie gelernt, ohne nachdenken zu müssen, reflexartig das Richtige zu tun. Die beste Trainigsmethode dafür ist eben Chi-Sao!

Ausschaltung des Bewußtseins

Das Chi-Sao-Training ermöglicht es dem Wing-Tsun-Kämpfer, sein Nervensystem so zu konditionieren, daß es automatisch die richtige Reaktion auslöst, die uns vor dem überraschenden Angriff schützt. In einem wirklichen Kampf greift uns der Gegner so schnell an, daß wir keine Zeit haben, um die Information, welche die Augen empfangen haben, an das Gehirn weiterzuleiten und darauf zu warten, daß uns das Gehirn die notwendigen Instruktionen gibt, welche Körperteile welche Maßnahmen ergreifen sollen. Wenn wir aber die Reflexe ausnutzen können, haben wir eine bessere Chance. Die Reflexe machen es möglich, daß unsere Arme bzw. Beine angreifen oder abwehren, ohne das wir auf die Entscheidung des Gehirns warten müssen. Wahre Kampftechniken sind nie durch irgendwelche Regeln geprägt. Förmlichkeit und Regelmäßigkeit (welche aber meistens im Training anderer Stile praktiziert wird) haben keinen Platz bei der Vorbereitung auf einen richtigen Kampf. Durch Chi-Sao-Trainig lernt unser Körper bedingt selbstständig zu handeln und stets intuitiv das in der Situation Richtige zu tun.

Wie man(n) / Frau Chi-Sao übt

Das einarmige Chi-Sao (Dan-Chi)

Es gibt 2 Formen des Chi-Sao (andere Schreibweise Chi-Sau):
Chi-Sao mit einem und mit 2 Armen. Das einarmige Chi-Sao ist die Vorstufe zum zweiarmigen Chi-Sao. Beim einarmigen Chi-Sao hat jeweils ein Arm des einen Übungspartners Kontakt mit einem Arm des anderen Übungspartners (jeweils rechts an rechts oder links an links). Beide Partner stehen sich genau gegenüber (Schultern parallel zueinander) im Siu-Nim-Tau (1. Form im WT) –Stand, dem IRAS, d.h. die Füße bewegen sich nicht, so das sich die Übenden ausschließlich auf die Bewegungen eines Armes konzentrieren können. Die Standardübung des einarmigen Chi-Sao (Dan-Chi) trainiert vor allem die 3 wichtigen Positionen: Bong (SchwingenArm)-, Tan (Handfläche-oben-Hand)-, und Fook-Sao (BückenArm), aber auch Faust- und Handflächenstoß sowie Gum-Sao (Abwehr). Diese Bewegungen bilden, miteinander verbunden, sich gegenseitig bedingt und in ihrer Wirkung aufhebend, einen Zyklus, der einen wichtigen Platz im Wing Tsun innehat. Der vollständige Zyklus des (Standard-) Dan-Chi besteht aus 6 Stationen, die aufeinander folgen. Abwechselnd neutralisieren die Übungspartner den gegnerischen Angriff und führen sogleich den eigenen Gegenangriff von Sation 1 bis Station 6 und dann wieder und wieder in einem unendlichen Zyklus.

Station 1
A greift an mit Handflächenstoß.

Station 2
B wehrt ab mit sinkenden Ellbogen (Gum-Sao).

Station 3
B greift an mit Fauststoß.

Station 4
A werht ab mit Bong-Sao (SchwingenArm).

Station 5
A verändert zu Tan-Sao (Handfläche-oben-Hand/Ausgangsposition).

Station 6
B muß zu Fook-Sao (BückenArm/Ausgangsposition verändern).

Wer bei diesen Übungen zuschaut, wird feststellen, daß die Arme der Übungspartner während des ganzen Zyklus buchstäblich „zusammenkleben“. Dies ist auch der Grund für die Bezeichnung Chi-Sao, was „Klebende Arme“ (manche benutzen die Übersetzung „Klebende Hände) heißt. Wenn die gegnerischen Arme Kontakt haben, fühlt jeder der beiden die kleinste Bewegung des Partners. Diese Wahrnehmung eines plötzlichen Angriffs löst automatisch und reflexartig eine angepaßte, wirksame Abwehr bzw. einen direkten Gegeangriff aus. Der Übende soll sich während des ganzen Zyklus ständig darüber im klaren sein, wer in welcher Station Angreifer bzw. wer der Verteidiger ist. Wer abwehrt, bevor der Gegner angreift, verwechselt die Rolle des Gastgebers mit der des Gastes. Viele wing-chun-Leute (wing chun, mit kleinen Anfangsbuchstaben, ist die Bezeichnung für den Gesamtstil: Wing Tsun, Ving Tsun, Wing Chun), die viel Praxis im einarmigen Chi-Sao hatten, leiten davon schon fälschlicherweise einen Anspruch auf Meisterschaft ab. So nützlich und unersätzlich wie das einarmige Chi-Sao auch sein mag, es ist nur die Vorstufe zum zweiarmigen Chi-Sao, das einen sehr viel höheren Grad an Können verlangt und entwickelt. Und, von Meisterschaft im Wing Tsun sprechen wir erst, wenn ein WT-Kämpfer mindestens den 5. (Praktiker-) Grad erreicht hat. Erst dann darf er sich Meister des (waffenlosen) Wing Tsun nennen! Hier befindet sich die Auffassung des WT im Einklang mit der klassischen Auffassung des japanischen Budo, wo der 2. oder 3. Dan Schwarzgurt keinesfalls als Meister, sondern nur als Fortgeschrittener zählt. In Europa ist es offensichtlich anders: hier gilt schon der „Träger des 1. Dan“ als uneingeschränkter Meister des Budo.

Zweiarmiges Chi-Sao

Nachdem der Schüler das einarmige Chi-Sao und die Chum-Kiu-Form (2. Form im WT) ausreichend beherrscht, wird er in das eigentliche, das zweiarmige Chi-Sao, eingeführt. Auch hier stehen sich die beiden Partner (zunächst ohne Standveränderung usw.) gegenüber, aber nun haben jeweils beide Arme der Übungspartner Kontakt. Das zweiarmige Chi-Sao hat 3 Aufgaben:

1. die Entwicklung des Gefühls sowie der Koordination beider Arme. Zu diesem Zweck soll mit wenig Kraft geübt werden.
2. die letzte Phase vor dem realistischen Kampf(-trainig): Nuk-Sao oder Lat-Sao (Freikampfübung).
3. ein vorzügliches, gezieltes und WT-spezifisches Krafttraining für Fortgeschrittene Chi-Sao-Leute, die das Gefühl bereits erworben haben! Wer zu früh Chi-Sao mit Kraft übt, geht einen falschen Weg, der nicht, oder zumindest langsamer, zum Ziel führt.

Das zweiarmige Chi-Sao soll es dem Schüler ermöglichen, volle Kontrolle über seine beiden Arme zu haben, so das etwa ein Arm zur Abwehr eingesetzt wird, während der andere, unabhängig davon, gleichzeitig eine völlig andere Aufgabe, etwa einen Gegenangriff, übernimmt. Die Schwierigkeit, beide Arme zu kontrollieren, wird durch das folgende Experiment Illustriert. Wir sollen in jeder Hand eine Teekanne halten und gleichzeitig Tee in verschieden große Tassen gießen.. Die Schwierigkeit besteht darin, daß die eine Hand aufhören soll Tee einzugießen, sobald die kleinere Tasse voll ist, die andere Hand aber ohne Stocken die größere Tasse füllen soll. Man kann durch zweiarmiges Chi-Sao beide Arme konditionieren, gleichzeitig und unabhängig und ohne überlegen zu müssen, sinnvolle Abwehren und Angriffe selbstständig auszuführen. Beim Üben des zweiarmigen Chi-Sao unterscheiden wir 2 Phasen:

A) Poon-Sao (Rollende Arme) und
B) Kuo-Sao (Kampfübung aus Kontakt)

A) Poon Sao (Rollende Arme)

Die Arme des Übenden scheinen durch einen Ring begrenzt und vollführen einen imaginären Kreis in Brusthöhe („imaginär“ laut Duden: nur in der Vorstellung bestehend, nur scheinbar). Manche wing chun-Lehrer unterrichten den Kreis in Kopfhöhe, wodurch man sich aber unnötigerweise gefährdet, weil der Kopf logischerweise zum Ziel wird. Der linke Arm des einen Partners ist mit dem rechten Arm des anderen Partners (und umgekehrt) während des Zyklus wie durch Kleber verbunden. Leider widmen zuviele wing chun-Leute dem Poon-Sao-Training zu wenig Zeit, weil sie glauben, daß es sinnlos sei, Poon-Sao zu üben, da es in einem richtigen Kampf nicht vorkommt. Ihr falsches Argument ist: Kein Angreifer rollt mit ihnen die Arme, bevor er angreift. Natürlich macht keiner Poon-Sao mit Ihnen, bevor er zuschlägt. Poon-Sao soll ja auch gar keinen Kampf darstellen, aber es ist eine überaus nützliche Übung für den Kampf. Denn es hilft mehr als jede andere Methode, das Gefühl in den Armen zu einem unglaublichen Grad zu entwickeln. Dieses Gefühl und der Kraftsteigerungseffekt (Muskulatur im Bereich der Arme, Schultern, Brust, des Rückens und der Beine) wird uns im Kampf Vorteile verschaffen. Es gibt 2 Poon-Sao Positionen:

1. jeweils ein Arm innen und ein Arm außen.
2. beide Arme innen oder außen.

Rollende Arme (Poon-Sao) sieht sehr leicht aus, wenn es 2 Fortgeschrittene zeigen, aber in Wirklichkeit ist es sehr schwierig, wenn es richtig sein soll. Deshalb lassen manche wing chun-Lehrer die Poon-Sao-Phase heutzutage leider aus, denn der Unterricht ist ihnen zu mühselig. Die Rollende Arme-Phase wird in der Regel meist mehrere Monate in Anspruch nehmen (bei 2 Mal Taining in der Woche. Bei intensiv-Lehrgängen oder Privat-Unterricht geht es natürlich sehr viel schneller – oder man geht einfach öfter ins Training *g*). Hier gilt es nichts zu überstürzen, denn Poon-Sao ist das Fundament für die fortgeschrittenen Chi-Sao-Techniken. Nach der Beherrschung der Poon-Sao-Phase lernt der Schüler einfache Angriffe mit der Faust oder Handfläche über oder unter seinen Armen zu erfühlen und abzuwehren. Auch übt er sich im gefühlsmäßigen Erkennen gegnerischer Deckungs- und Drucklücken sowie im reflexartigen Ausnutzen dieser Schwächen durch den eigenen Angriff mit Faust oder Handfläche. In diesem Stadium lernt der Chi-Sao-Schüler den plötzlichen Angriff seines Partners mit einem Arm abzuwehren, während er gleichzeitig seinen anderen Arm nicht vernachlässigen darf, der bereit sein muß, selbstständig anzugreifen oder auf gegnerische Angriffe automatisch zu reagieren. Hier ist ein Vergleich hilfreich: unser Verstand ist wie der oberste Kriegsherr eines Landes, unsere Arme wie 2 Armeen, unser Nervensystem wie der kommandierende General. Wenn nun der Feind plötzlich von links angrift, wird die linke Armee mit diesem Angriff fertig werden, ohne das dadurch die rechte Armee in Unordnung und Panik gerät. Die nicht beteiligte rechte Armee wird weiterhin wachsam seine Aufgaben erfüllen. Oder anders: der General (das Nervensystem) kann und braucht seinen obersten Kriegsherren (das Gehirn) nicht um Instruktionen zu bitten. Ebebsowenig soll der Wing-Tsun-Kämpfer angesichts plötzlicher Gefahr z.B. beide Arme zur Notwehr hochreißen und dadurch den Unterleib schutzlos dem gegnerischen Tritt ausliefern. Und ebensowenig hat er Zeit, über seine Entscheidung nachzudenken. Weshalb fügen wir nun nach dem Erlernen der Poon-Sao-Übung zunächst nur einfache Angriffe mit Faust und Handfläche hinzu? Wir glauben, daß ein Kind erst lernen muß zu stehen, bevor man es gehen, laufen und springen lehren kann. Ebenso ist es mit Wing Tsun.

B) Kuo-Sao (Kampfübung)

Wir bauen jetzt auf das (hoffentlich) solide Fundament auf, das durch die Siu-Nim-Tau-Form (1. Form im WT), der Chum-Kiu-Form (2. Form im WT), dem Dan-Chi, Poon-Sao und das Üben einfachster Angriffe und Abwehren gelegt wurde. Nun führen wir etwas komplexere Bewegungsabläufe ein, die anfangs sehr langsam und korrekt zu üben sind. Denn diese neuen Bewegungen müssen zunächst noch über das Gehirn gelernt werden. Erst später kann die Geschwindigkeit bei Erhaltung korrekter Ausführung erhöht werden. Der Erfolg dieses Prozesses hängt davon ab, ob dieser Schüler seinen Fortschritt von einem qualifizierten Sihing (Trainer, älterer Trainigspartner) oder Sifu (Trainer des Trainers) überwachen lassen kann. Auch ist oft nur ein erfahrener Meister in der Lage, den Schüler dazu zu bringen, das Gehirn ganz abschalten zu können und sich nur auf sein Gefühl zu verlassen. Manchmal hilft es, wenn der Schüler beim Üben die Augen schließt und dabei umso intensiver den Druck wahrnimmt. Diese Phase überschreitet das rein Technische und Physische und erfordert die Einbeziehung des ganzen Menschen. Das weitere WT-Schicksal des Fortgeschrittenen liegt buchstäblich in den Armen des Lehrers, der die (toten) Techniken des Schülers in (lebendige) Reflexe verwandeln kann. Ohne diese Hilfe mag der Schüler zwar seine „Techniken“ sehr ordentlich demonstrieren können, aber in einem richtigen Kampf werden beide Arme und Beine nicht reflexartig und selbstständig diese Bewegungen ausführen. Dieser Schüler wird nie die Kluft zwischen Kennen & Können überbrücken und nie erfahren, was Kampkunst wirklich sein kann. Guter Unterricht durch einen qualifizierten WT-Lehrer verbunden mit dem persönlichen Fleiß und Ehrgeiz des Schülers werden immer zum Erfolg führen. Es geht darum, daß der Schüler seine Bewegung im Kampf, in der Notwehrsituation automatisch anwenden kann. Es geht nicht darum, daß der Schüler eine Vielzahl von Bewegungen tänzerisch demonstrieren kann, um Laien zu beeindrucken. 8 bis 12 direkte und praktische WT-Bewegungen, die zum reflexartig einzusetzenden Kampfrepertoire geworden sind, reichen, verbunden mit entsprechender Schlagkraft, aus um mit dem stärksten und gefährlichsten Angreifer fertig zu werden. Die meisten Leute haben keine auszureichende Schlagkraft. Tatsächlich aber braucht man nur 2 bis 3 Jahre Training, um so viel Schlagkraft aufzubauen, daß man seinen Gegner mit ein paar Schlägen oder gar nur Einem K.O. schlagen kann. Leider gibt es heutzutage Kung-Fu-Leute, welche Quantität der Qualität vorziehen. Diese möchten das Programm eines Jahres am liebsten an einem Tag erlernen. Solche Leute sind schrecklich dumm. Denn während es für den Lehrer sehr leicht ist, mehr Techniken zu zeigen, ist es für den Schüler unmöglich, soviel auf einmal zu verstehen. Unverdautes Wissen ist aber praktisch gleichbedeutend mit Unwissenheit. Das WT-Studuim ist kein Hobby wie das Briefmarken sammeln. Es geht nicht darum, möglichst viele Techniken gesehen oder ein paarmal gemacht zu haben. In der Selbstverteidigung geht es um Funktionalität. Nur was der Schüler im Kampf wirklich anwenden kann, zählt. Alle anderen Techniken sind totes Wissen und unnützer Ballast. Erst durch geduldiges Üben, ja Drillen kann man diese Techniken zum Leben erwecken und scharf machen. Wer in der gleichen Zeit mehr Techniken lernen will, betrügt sich selbst um seinen Erfolg. Nach dem Trainigsprogramm der Leung-Ting (mitunter die EWTO-) Schulen lernt der Schüler in den ersten 6 Monaten etwa ein gutes Dutzend (12) oder mehr Bewegungen. Nach weiteren 3 Monaten kann er sie schon praktisch im Kampf einsetzen und anwenden. Nach nur einem Jahr wird aus dem unerfahrenen Laien ein Könner, der WT-Bewegungen zum Kampf benutzen kann. Es handelt sich bei seinen Bewegungen aber vorerst um „mechanische Techniken“, erst nach einem weiteren Jahr kann der Schüler in der Lage sein, nach Gefühl zu kämpfen, d.h. die wirklichen Absichten (Druckrichtungen) des Gegners zu erfühlen. Viele Kampfkünstler glauben schon nach einem Jahr oder weniger Training , sie könnten gefühlsmäßig reagieren, weil sie schon richtig abwehren und angreifen können. Aber diese mechanische Reaktion hat nichts mit dem zu tun, was wir im WT unter Gefühl verstehen. Der WT-Experte kann auf Ohren und Augen verzichten und sich ausschließlich auf dieses Gefühl beim Kämpfen verlassen. Wer noch selbst dem Angriff ausweichen und Deckungslücken beim Gegner optisch erkennen muß, der reagiert mechanisch, aber noch nicht gefühlsmäßig. Nach Gefühl (Tastsinn) kämpfen zu können ist ein großes, aber kein leichtes Ziel. 2 Jahre muß man mindestens dafür anstzen. Manche können es aber selbst nach 3 oder 5 Jahren noch nicht. Und die meisten wissen nicht einmal, daß sie es können. Das Heilmittel ist: Zuerst muß man sich über den Fehler im klaren sein. Dann muß man, bei von vorne kommenden Angriffen (Ausnahme Schwinger, Rundtritte usw., jede Reaktion über die Augen vermeiden und sich im Training völlig auf den Berührungssinn verlassen, bis eine Änderung erreicht worden ist.

Unser WT-Chi-Sao folgt diesen Leitsätzen:

Stoß vor, wenn der Weg frei ist.
Klebe am angreifenden Arm des Gegeners.
Gib nach, wenn der Gegner stärker ist.
Folge, wenn der Gegner den Arm zurückzieht.

Diese Prinzipien werden in dem Buch „Vom Zweikampf“ genau erklärt. In diesem Stadium fühlen wir, ob die Bewegung des Gegners ernst gemeint oder fintiert (angetäuscht) sind. Und wir fühlen genau, was der Gegner beabsichtigt, sobald unsere Arme Kontakt mit denen des Gegners haben. In dieser Stufe sind unsere Arme im Prinzip wie 2 starke, biegsame Rattanstöcke oder wie 2 Spiralfedern, welche erst (durch den Angriff des Gegners) gespannt und sich sogleich wieder entspannen (Abwehr/Gegenangriff). Wenn also unser Gegner mit übergroßer Kraft gegen unseren Arm drückt, wird dieser nachgeben, aber am angreifenden Arm kleben, d.h. ihn kontrollieren. Zieht der andere den Arm zurück oder verliert der Angreifer an Kraft, folgt unser Arm und stößt automatisch in die Lücke. In diesem Stadium des Könnes (von dem ich mich persönlich noch weit weg befinde) ist die Anwendung unserer Kampfbewegungenunabhängig vom Seh und/oder Hörsinn. Ist diese Können erreicht, können wir sogar mit verbundenen Augen, nur auf unser Gefühl verlassend, kämpfen. Dieses Chi-Sao mit verbundenen Augen ist eine der letzten Herausforderungen für den Meister, aber es gibt noch höhere Schwierigkeitsgrade und Leistungsstufen im Waffenlosen Wing Tsun. Meiner Meinung nach ist das höchste Wing Tsun das, welches zum Einfachsten zurückkehrt, das ohne Technik auskommt, den Impuls des Gegners verwendet, auf eigene Aktivität verzichtet, der Bewegung des Gegners folgt und ihn durch Nicht-Tun besiegt. Dies ist das höchste Ziel der Kampfkunst. Kämpfen und Philosophie werden eins.


Dies war (m)eine Erklärung zum Chi-Sao im Wing Tsun-System. Weitere Informationen stehen in der „Wing Tsun Kuen“, der Bibel eines jeden WT-Anhängers!

Post scriptum: wer Rechtschreibfehler findet darf sie behalten...!

Gruß & Dank,
Der Suchende.