Die Vorreiter des Vollkornbrotes waren die so genannten Brotreformer, die im Deutschen Reich seit den 1890er Jahren immer neue, komplizierte Fertigungsverfahren ersonnen, um ein natürliches und gesundes Brot herzustellen, welches Kleie noch enthielt. Graham-, Felke-, Steinmetz- und Simonsbrot wurden in den 1890er Jahren marktgängig, es folgten bis zum Ersten Weltkrieg Schlüter-, Finkler- und Klopferbrot. Der Reigen immer neuer urtümlicher Produkte wurde 1927 durch das Knäckebrot wesentlich ergänzt. Die Brotreformer wandten sich
gegen einen Kommerzialisierungsprozess, dessen Grundlage eine immer effizienter arbeitende Müllereiindustrie war. Das Getreide konnte so preiswert von der Kleie befreit und zu Feinmehl verarbeitet werden. Da die Kleie überdurchschnittlich viel Eiweiß, Fett und Mineralstoffe enthielt, schien dies eine Sünde wider die Natur zu sein. Vor dem Hintergrund des damaligen sozialdarwinistischen Diskurses galt die Brotfrage als elementare Lebensfrage der
Volkskraft der Deutschen oder – wie es vielfach auch hieß – der weißen Rasse. Die Industrie beraubte – so schien es – die Menschen ihrer angestammten Kost.
Etablierte Wissenschaft und die breite Mehrzahl der Käufer folgten dieser Logik nicht. Der Erste Weltkrieg ließ die Brotreformer daher frohlocken, schien die höhere Ausmahlung des Brotes doch eine Art Jungbrunnen für die deutsche Nation. Doch die Ergebnisse des Großexperimentes waren ernüchternd. Die dunklen Brote waren vielfach von schlechter Qualität, führten zu Darmbeschwerden, wurden nicht gerne gegessen. Der schon vor dem Ersten Weltkrieg
vielfach beklagte Drang zum weißen Brot, zum Weizenbrot und -brötchen, konnte nicht gestoppt werden. Die Kriegserfahrungen veränderten die Brotfrage deutlich: In den 1920er Jahren wurde kaum mehr um Brotreform und Vollkornbrot gerungen, sondern um die Qualität und die Zukunft des deutschen Roggenbrotes.
Deutsches Roggenbrot, damit verband sich zu dieser Zeit eine wirtschaftliche Frage ersten Ranges, aber auch die Frage deutscher Identität. Vor allem die konservativen Parteien und das Zentrum forderten eine energische Politik für das Roggenbrot, empfahlen umfassende Werbekampagnen unter Mottos wie „Deutsche, eßt deutsches Brot“ oder „Der Patriot ist Roggenbrot“.
Im Deutschen Reichstag wurden Einfuhrbeschränkungen des billigen und qualitativ besseren amerikanischen Weizens diskutiert, Verkaufbeschränkungen für Weizenprodukte und auch „weizenfreie“ Tage für die städtische Bevölkerung gefordert. Die Roggenfraktion betonte, dass Deutschland ein Roggenland, Weizen in hoher Qualität im Inland nicht genügend anzubauen sei. Weizen sei ein entbehrlicher Luxus, dessen Konsum die deutsche Landwirtschaft gefährde und teuerer und weniger schmackhaft als Roggen sei. Der Ruf nach Staatshilfe und Ernährungslenkung zielte auf eine möglichst auf deutschen Lebensmitteln gründende Ernährungsweise, für die auch der Junge auf dem Titelblatt der Roggenfibel lachte.