Cavalieri dell`Umiltà
Maestro Giuseppe Vuovolo zu Besuch bei Roberto Laura
Grundlegendes
Bei der Kunst der Cavalieri dell`Umiltà (deut. Ritter der Demut) handelt es sich um ein traditionelles Klingen- und Stockkampfsystem aus Manfredonia, einer kleinen Stadt am Meer im Norden Apuliens. Der Legende nach wurde das System im Jahre 1417 n.Chr. von drei Söldnern - Conte, Rosso und Fiorellin di Spagna - über Kalabrien und Südapulien nach Manfredonia gebracht. Eigentlich hat diese Kunst keinen Namen. Man spricht lediglich von coltello e bastone (deut. Messer und Stock). Mit Ritter der Demut sind vielmehr die Praktikanten der Kunst gemeint und nicht die Kunst als solche. Die verwendeten Waffen sind das Messer (vom Typ a viso lungo; deut. langes- bzw. schmales Gesicht), der Hirtenstock, das Rasiermesser und die große Hippe. Zusätzlich werden die Techniken des Messers auf die leere Hand übertragen. Diese Methode nennt sich a calci e schiaffi (deut. mit Tritten und Ohrfeigen).
Die Schule des Messers gliedert sich in fünf Lehrschritten: der libera (deut. die Freie), der mezza chiusa und der chiusa (deut. die Halbgeschlossene und die Geschlossene) , der a tagliare (deut. das Schneiden), dem specchio und (deut.der Spiegel) der galeotta (deut. sinngemäß: die Methode der Sträflinge). Die libera stellt den größten und wichtigsten Teil der Ausbildung. Sie vermittelt die notwendige Struktur, die grundlegende Schrittarbeit in Angriff und Verteidigung, den Stich und die wichtigste Parade dieser Schule, den ponte (deut. die Brücke). Die anderen Lehrschritte haben ihrerseits spezifische Aufgaben in bezug auf Taktik und Eigenschaftsschulung. Die galeotta hingegen lehrt auf engsten Raum zu kämpfen. Sie wurde in den Gefängnissen Süditaliens entwickelt und hat die Eigenart, dass das Messer mit umgekehrter Griffhaltung geführt wird. Ist die Basis vermittelt, werden dem Schüler die astuzie, die listigen Handlungen, eröffnet.
Erster Tag
Am Wochenende des 07.- und 08.Juni 2008 besuchte mein Lehrer, Maestro Giuseppe Vuovolo, zum ersten Mal unsere kleine Trainingsgruppe in Deutschland. Das Training fand in Karlsruhe, in der Schule Hieb- und Stichfest von Marc Kettenbach, statt. Mein erneuter Dank an dieser Stelle für die Bereitstellung der Räumlichkeiten und die Verpflegung! Maestro Vuovolo begann sein Training in dieser Kunst im Alter von 14 Jahren. Von seinen Lehrern lebt heute nur noch einer, Maestro Vincenzo Borgia, den ich letztes Jahr im August persönlich kennenlernen durfte. Ziel dieses ersten Seminares war ein kleiner Gesamtüberblick in bezug auf Messer und Stock. Zuerst begann der Maestro mit der systemspezifischen Gymnastik. Diese Gymnastik hat die Eigenart, dass jede Übung gleichzeitig ein taktisches Mittel darstellt. Danach widmete er seine Aufmerksamkeit den ersten grundlegenden Figuren der libera (hierbei handelt es sich um kleine technische Abläufe, die, frei zusammengestellt, zu einer großen freien Form verschmelzen können). Behandelt wurden dabei der Stich samt Brückenparade, der salto d´assalto (deut. Kampfsprung), der mezzo salto d`assalto (deut. halber Kampfsprung) und der calcio d`arresto (deut. der Festlegetritt). Anschließend standen die forbice (deut. die Schere) und die mezza forbice (deut. die halbe Schere) samt staffa (deut. Steigbügel; gemeint ist ein seitlicher Tritt) im Mittelpunkt. Aus diesen Ideen heraus ergab sich eine taktische Kette. Die dazu relativen Angriffs- und Kontersprünge wurden durch quartiature gekontert (Anm.: die quartiatura ist ein Mittel um den angreifenden Gegner durch ausweichende Manöver zu flankieren) und diese wiederum durch schnelles Neuausrichten neutralisiert.
Nach dem Training ging es in einen badischen Biergarten. Mit selbstgebrauten Bier und badischen Spargel wurde Maestro Vuovolo eine ihm bis dahin unbekannte kulinarische Kunst vorgelegt. Abends demonstrierte der Maestro in meiner heimischen Trainingshalle noch einige Konzepte des waffenlosen a calci e schiaffi. Zudem ging er auf die waffenlose Verteidigung gegen Messerangriffe ein (Anm.: besser gesagt zeigte er, was weshalb nicht funktioniert!) und auf Taktiken, sofern man sich z. B. mit dem Rücken gegen eine Wand befindet oder ausgerutscht ist und auf dem Boden gegen einen stehenden Gegner kämpfen muss.
Zweiter Tag
Am Vormittag des zweiten Tages begann Maestro Vuovolo mit der Schule des Hirtenstockes. Diese in Apulien schlicht bastone (deut. Stock) oder mazza (deut. Stock, Schlagholz, Keule) genannte Waffe hat eine Länge von circa 135cm und einen konischen Verlauf. Das verwendete Holz ist zumeist die Zerreiche. Mit einem Durchmesser von circa 3,5cm am Griffende und 3cm an der Spitze, hat dieses Schlagholz ein nicht zu unterschätzendes Gewicht. Wie auch beim Messer steht beim Hirtenstock die Gymnastik am Anfang des Trainings. Hierbei handelt es sich um Übungen für die Beweglichkeit der oberen Gelenkkette, den Schulter-, Ellbogen- und Handgelenken, sowie des gesamten Oberkörper- bzw. Rumpfbereiches. Im Anschluß folgten die ersten fünf Figuren: diese sind im Einzelnen die sogenannte mulinelli da fermo (deut. Wirbelschläge stehend), mulinelli caminado (deut. Wirbelschläge gehend) und der colpo alla testa (deut. Kopfhieb) als Überleitung zur dritten Figur, dem coltello stretto (deut. enges Messer). Dann folgt das coltello largo (deut. weites Messer) und letztendlich die passetti giranti (deut. kleine kreisende Schritte).
In der Mittagspause erzählte der Maestro von den alten Regeln der uomini d`umiltà (deut. die Männer der Demut). Um dieser Art dörfischen-, respektive städtischen Bürgerwehr beizutreten, bedurfte es eines bereits involvierten Fürsprechers und der Bereitschaft sich einer weitreichenden Beobachtung auszusetzen (Anm.: die Moral des Aspiranten musste gewährleistet sein, bevor dieser in die Regeln und den Waffen eingewiesen wurde). Danach folgte das Auswendiglernen der regole, eben dieser alten Regeln der Gesellschaft der Demut. Erst im Anschluß daran eröffntete sich dem Jüngling die Tür zur Waffenschule. Um in der Gesellschaft der uomini d`umiltà weiterzukommen mußte das Mitglied Püfungen ablegen. Diese <<Prüfungen>> unterlagen ganz genau festgelegten Riten. Abgesehen von der genauen Kenntniss der Regeln, mußte der Anwärter, um in Grad aufzusteigen, Kampfprüfungen bestehen (Anm.: Es handelt sich hierbei nicht um Graduierung im Sinne der heute in der Kampfkunst verbreiteten Gürtelprüfungen bzw. Schüler- und Meistegrade. Viemehr ging es darum, innerhalb dieser subkulturalen Gesellschaft an Rang und Einfluss zu gewinnen und auch darum, der fonte dell`umiltà, der Quelle der Demut, einen Schritt näher zu rücken). Je nach angestrebten Grad erschwerte sich die Prüfung. Sofern bestanden überreichte man dem Mitglied, je nach erworbenen „Würdentitel“, eine der vier farbigen Schärpen. Diese Schärpen hatten jedoch nicht nur einen ideellen Wert. Sie wurden ebenfalls als Werkzeug im Kampf verwendet.
Am Nachmittag standen Konzepte ad ultima ratio auf dem Programm. Es ging um Situtionen, in denen kein ordentlicher Kampfaufbau mehr möglich ist. Auch wurde die Thematik des Ziehens der Waffe, bzw. der dafür erforderlichen Zeitspanne behandelt. Abschließend zeigt der Maestro noch vier Konzepte um die Distanz zu überbrücken. Darunter den tuffo del pesce (deut. der Sprung des Fisches), den calcio a tagliare (deut. der schneidende Tritt), die tagli a croce (deut. Kreuzschnitte) und das chiudere e aprire (deut. das Schließen und Öffnen). Nach der Verabschiedung der Teilnehmer und der Rückfahrt zu meinem Haus, zeigte mir Maestro Vuovolo im Schnelldurchlauf noch die galeotta und die offensive Variante der mezza chiusa. Kurz vor dem Abendessen hatte ich die Ehre Maestro Vuovolo den genuesischen Spazierstock und das genuesische Messer, sowie die piemontesische Messerschule zeigen zu dürfen. Im Gegenzug demonstrierte er mir die apulische Art des Kampfes bloße Jacke gegen das Messer. Dann folgte noch ein französisches Spazierstocksystem, welches ihm einst der französische Kikboxer Dominique Valera gelehrt hatte. Dieses System hat konzeptionelle Ähnlichkeiten zum apulischen Hirtenstock aber auch zu den norditalienischen Stockschulen. Dies deshalb, weil es - wie eben im Norden Italiens üblich - sehr kurzweilig ist. Es besteht lediglich aus elf (11) Schlägen.
Gruppenbild der Seminarteilnehmer. In der Mitte mit weissem Kapuzenshirt ist Maestro Vuovolo. Weitere Bilder folgen.
Letzter Tag
Der nächste Tag und die damit verbundene Fahrt zum Stuttgarter Flughafen verliefen aufgrund steter Baustellelen und Unfällen auf der A6 und der A81 etwas chaotisch. Ein 16 Kilometer langer Stau machten ein Weiterkommen nahezu unöglich und zwang uns phasenweise auf Landtraßen auszuweichen. Mit Mühe und Not erreichten wir den Flughafen rechtzeitig zum Boarding. Der Vorteil: Im Auto hatten wir durch die Staus etwas Zeit über den Kampf mit dem Rasiermesser und die dazugehörigen Griffvarianten zu sprechen. Da ich mir morgens in aller Frühe auf die schnelle noch ein Rasiermesser besorgt hatte, blieb auch eine kleine praktische Anleitung der Griffvarianen nicht aus.
Danksagung und Schlußwort
Mein herzlicher Dank gilt allen Teilnehmern und natürlich meinem Lehrer, Maestro Giuseppe Vuovolo! Vor allem gebührt ihm mein Dank dafür, dass er mir vor zwei Jahren die Tür zu einer Welt geöffnet hat, die den meißten - auch in Italien - gänzlich unbekannt ist. Die italienische Halbinselt verfügt von den Alpen bis zur Ferse Apuliens und der Spitze Kalabriens und mit all ihren Inseln, über eine Vielzahl verborgener kultureller Schätze der Fechtkunst mit Stock, Klinge und der leeren Hand. Recherche und Hingabe gleichen hier einer Schatzsuche, einer archäologischen Ausgrabung gleich. Einer dieser Schätze ist die Kunst der Cavalieri dell`Umiltà. Nebst Italien verfügen aber auch Frankreich, Spanien und Portugal über eine mittlerweile aufgeschlossene und ebenfalls weit zurückreichende Kampfkultur. Und so schrieb ich diesen kleinen Bericht in der Hoffnung, es mögen sich mehr Schatzsuchende auf den Weg machen und mehr Schätze dieser Art auf unserem schönen europäischen Kontinent finden und ausgraben. Schätze, die einen Teil unserer Geschichte darstellen und zu wertvoll sind, um im Schatten der Vergessenheit für immer zu entschwinden.
Besten Dank für das Lesen und Grüße an alle,
Roberto Laura