Ich profitiere jetzt schon jetzt seit einigen Monaten als anonymer Gast-Leser von eurem geballten IngUng-Wissen. Da dachte ich mir, ich könnte euch mal etwas von meinem bescheidenen Fachwissen zukommen lassen, um hier eine kleine (hoffentlich ergiebige) Diskussion vom Zaun zu brechen:
Aaaaaaalso, meiner einer hat momentan im Rahmen seiner Dissertation viel mit der Frage zu tun, welche Faktoren unser Lernen beeinflussen. Insbesondere beschäftige ich mich mit dem Lernen von regelhaften Abfolgen, also mit nix anderem als mit dem Erlernen von Sequenzen (oder auch Sektionen wenn man so will). Natürlich habt ihr hier schon oft darüber gestritten, ob solche „starren“ Sektionen Sinn machen oder nicht. Oft endete das ja damit, dass einfach eine pro Meinung und eine Contra Meinung vertreten wurde, ohne wirkliche Belege außer der eigenen Erfahrung liefern zu können. Und da dachte ich mir: Wenn ich als altes WT-Weichei schon net vernünftig kloppen kann, dann kann ich wenigstens das machen was wir WTler ja angeblich so gut können: Über die Theorie sprechen ;-)!
Wir Psychologen unterscheiden zwischen zwei Lernmodi: Dem expliziten (bewussten) Lernmodus und dem impliziten (unbewussten). Vermutlich sind beide Lernmechanismen immer aktiv aber meist einer mehr als der andere. Der Unterschied zwischen beiden: Der explizite Modus unterliegt wie der Name schon sagt unserer bewussten Kontrolle. Wir können z.B. unsere Aufmerksamkeit auf eine Vokabelliste lenken und diese durch mehrmaliges Wiederholen lernen und später auch abrufen.
Beim impliziten Lernmodus sieht das etwas anders aus. Hier ist die Lernsituation eher zufällig, d.h. wir merken gar nicht wirklich, dass wir gerade etwas lernen. Beispiel: Wir erinnern uns mal kurz weeeeeeit zurück an die Tage wo wir Fahrrad fahren lernten. Lange, lange mussten wir mit Stützrädern oder mit der Hilfe von Mami und Papi radeln bis auf einmal „ganz plötzlich und wie von selbst“ ein paar Meter alleine ging. Wir hatten also etwas gelernt ohne es zu merken. Uns wurde erst der Lernerfolg bewusst und „auf einmal“ ging es.
Nur bleibt da ein Problem: Wir können dann unserem Sohnemann immer noch nicht ERKLÄREN wie man Fahrrad fährt. Klar, ich kann so was sagen wie „immer Lenker gerade halten und im Gleichgewicht bleiben“ etc. aber die Umsetzung muss er schon selber hinkriegen. Das ist ein zweiter wichtiger Unterscheidungspunkt zwischen den Lernmodi: Beim impliziten Modus können das know-how nur schlecht bis gar nicht verbalisieren unser „Schüler“ muss es selbst erfahren um es irgendwann zu können. Ich rede hierbei übrigens nicht über irgendwelche taktilen „trainierten Reflexe“. Sowas gibt es streng genommen gar nicht. Reflexe sind NICHT trainierbar, sonst sind es keine Reflexe. Reflexe sind automatische Reaktionen des Körpers auf ganz spezifische Reize. Die Reaktionen können NICHT beeinflusst werden. Aber egal, ich schweife ab, also…
Unterschied klar soweit und alle noch wach? ;-) Schön.
Ähnlich wie beim Fahrrad fahren verhält es sich auch beim Erlernen eines Musikinstruments. Man lernt immer wieder z.B. verschiedene Griffe auf der Gitarre und soll dann üben zwischen diesen Griffen möglichst flüssig zu wechseln, damit man dann im „Ernstfall“ auch eine Melodie möglichst ohne Unterbrechungen spielen kann. Nun kann man das Wechseln zwischen den Griffen entweder immer in der gleichen Abfolge trainieren, oder die Abfolge frei variieren. Ersteres wird natürlich dazu führen das ich diese spezielle Abfolge sehr schnell flüssig beherrsche und daher vielleicht ein Lied spielen kann. Versuche ich aber eine andere Melodie, also eine andere Sequenz passiert etwas sehr unangenehmes: Ich kann die neue Melodie noch langsamer spielen als ich das ganz am Anfang mit der alten Melodie konnte. Das Lernen der ersten „starren“ Sequenz behindert mich beim Lernen einer neuen Sequenz. Das bezeichnen wir als negativen Transfer (oder proaktive Interferenz). Transfer an sich ist keineswegs schlecht, sondern im Gegenteil eher gewollt und bezeichnet im Allgemeinen eigentlich nur die Tatsache, das uns das Lösen einer Aufgabe A beim Lösen einer zweiten Aufgabe B weiterhilft und wir diese schneller lösen können, als wenn wir vorher nicht Aufgabe A gelöst hätten (dies wäre dann positiver Transfer). Immer noch wach? Erstaunlich .
Nun nur noch ein Denkanstoß: Was wäre wenn uns unser Gitarrenlehrer nicht nur eine zweite Melodie zum Üben gegeben hätte, sondern eine etwas freiere Übung: Er sagt uns immer einen Griff an, den wir spielen sollen bis er ganz spontan wieder einen anderen ansagt. Das macht er einfach mal fünf Minuten lang ohne irgendeiner Sequenz zu folgen. Was meint ihr, sind wir hier besser wenn wir vorher immer nur eine starre Sequenz gelernt haben, oder wenn wir vorher frei variiert haben?
Nun könnte der aufmerksame Leser natürlich einwenden, dass wir ja beim Training im „bewussten“ Modus sind und daher meine Ausführungen für eine KK nur Schall und Rauch sind. Naja….
1. Hab ich schon erwähnt, das beide Mechanismen parallel wirken mal der eine mehr, mal der andere.
2. Ist diese Hypothese des expliziten Modus nicht so ganz schlüssig: Kennt ihr das nicht, dass man im Training 100 Mal eine Sache versucht gut hinzukriegen und auf einmal klappts und ihr köönt aber nicht sagen was ihr beim 101. Mal anders gemacht habt? Siehe Fahrrad Beispiel
3. Auch wenn wir explizit lernen erleiden wir solchen negativen Transfer, das zeigen z.B. Kontexteffekte im Langzeitgedächtnis und andere Phänomene wie z.B. state-dependent-learning, etc. Wir sind leider oft nicht so flexibel im Hirn wie wir gerne glauben. Gerade fixe Sequenzen „brennen“ sich schnell ins Hirn ein und sind dann schwer zu „löschen“.
4. Wäre rein explizites Lernen und Abrufen des Gelernten im Kampf viel zu langsam. Zwar ist der implizite Modus noch etwa unflexibler als der explizite, dafür ist der explizite um einiges langsamer. Er wäre uns im Kampf oder im Sparring (nicht das Zeug was ich bisher in meinem Verband gesehen habe) nur sehr wenig von Nutzen.
Also mein äußerst "wissenschaftliches" Fazit: Sektionen sind Käse!
Bevor mir das hier einer vorwirft: Meine Ausführungen beruhen nicht auf irgendwelchen spinnerten Theorien von mir, sondern auf empirischen Daten. Diese Daten sind zwar alle aus der Laborforschung verfügen aber über eine ziemlich hohe externe Validität und sind daher wohl auch für die Anwendung relevant. Wenn jemanden die genauen Quellen interessieren, kann ich die gerne posten oder als PM verschicken. Die hier in den Text zu packen würde der Leserlichkeit dann doch eher schaden und ich wollte hier ja kein Paper zur Veröffentlichung an ein Fach-Journal schicken.
Achja und bevor ichs vergesse: Hallo erstmal KKB Himmel ist das lang geworden. Mea Culpa für dieses Monstrum