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Thema: Über den Sinn und Unsinn von Sektionen

  1. #1
    BumBumKiwi Gast

    Standard Über den Sinn und Unsinn von Sektionen

    Ich profitiere jetzt schon jetzt seit einigen Monaten als anonymer Gast-Leser von eurem geballten IngUng-Wissen. Da dachte ich mir, ich könnte euch mal etwas von meinem bescheidenen Fachwissen zukommen lassen, um hier eine kleine (hoffentlich ergiebige) Diskussion vom Zaun zu brechen:

    Aaaaaaalso, meiner einer hat momentan im Rahmen seiner Dissertation viel mit der Frage zu tun, welche Faktoren unser Lernen beeinflussen. Insbesondere beschäftige ich mich mit dem Lernen von regelhaften Abfolgen, also mit nix anderem als mit dem Erlernen von Sequenzen (oder auch Sektionen wenn man so will). Natürlich habt ihr hier schon oft darüber gestritten, ob solche „starren“ Sektionen Sinn machen oder nicht. Oft endete das ja damit, dass einfach eine pro Meinung und eine Contra Meinung vertreten wurde, ohne wirkliche Belege außer der eigenen Erfahrung liefern zu können. Und da dachte ich mir: Wenn ich als altes WT-Weichei schon net vernünftig kloppen kann, dann kann ich wenigstens das machen was wir WTler ja angeblich so gut können: Über die Theorie sprechen ;-)!

    Wir Psychologen unterscheiden zwischen zwei Lernmodi: Dem expliziten (bewussten) Lernmodus und dem impliziten (unbewussten). Vermutlich sind beide Lernmechanismen immer aktiv aber meist einer mehr als der andere. Der Unterschied zwischen beiden: Der explizite Modus unterliegt wie der Name schon sagt unserer bewussten Kontrolle. Wir können z.B. unsere Aufmerksamkeit auf eine Vokabelliste lenken und diese durch mehrmaliges Wiederholen lernen und später auch abrufen.
    Beim impliziten Lernmodus sieht das etwas anders aus. Hier ist die Lernsituation eher zufällig, d.h. wir merken gar nicht wirklich, dass wir gerade etwas lernen. Beispiel: Wir erinnern uns mal kurz weeeeeeit zurück an die Tage wo wir Fahrrad fahren lernten. Lange, lange mussten wir mit Stützrädern oder mit der Hilfe von Mami und Papi radeln bis auf einmal „ganz plötzlich und wie von selbst“ ein paar Meter alleine ging. Wir hatten also etwas gelernt ohne es zu merken. Uns wurde erst der Lernerfolg bewusst und „auf einmal“ ging es.
    Nur bleibt da ein Problem: Wir können dann unserem Sohnemann immer noch nicht ERKLÄREN wie man Fahrrad fährt. Klar, ich kann so was sagen wie „immer Lenker gerade halten und im Gleichgewicht bleiben“ etc. aber die Umsetzung muss er schon selber hinkriegen. Das ist ein zweiter wichtiger Unterscheidungspunkt zwischen den Lernmodi: Beim impliziten Modus können das know-how nur schlecht bis gar nicht verbalisieren unser „Schüler“ muss es selbst erfahren um es irgendwann zu können. Ich rede hierbei übrigens nicht über irgendwelche taktilen „trainierten Reflexe“. Sowas gibt es streng genommen gar nicht. Reflexe sind NICHT trainierbar, sonst sind es keine Reflexe. Reflexe sind automatische Reaktionen des Körpers auf ganz spezifische Reize. Die Reaktionen können NICHT beeinflusst werden. Aber egal, ich schweife ab, also…
    Unterschied klar soweit und alle noch wach? ;-) Schön.
    Ähnlich wie beim Fahrrad fahren verhält es sich auch beim Erlernen eines Musikinstruments. Man lernt immer wieder z.B. verschiedene Griffe auf der Gitarre und soll dann üben zwischen diesen Griffen möglichst flüssig zu wechseln, damit man dann im „Ernstfall“ auch eine Melodie möglichst ohne Unterbrechungen spielen kann. Nun kann man das Wechseln zwischen den Griffen entweder immer in der gleichen Abfolge trainieren, oder die Abfolge frei variieren. Ersteres wird natürlich dazu führen das ich diese spezielle Abfolge sehr schnell flüssig beherrsche und daher vielleicht ein Lied spielen kann. Versuche ich aber eine andere Melodie, also eine andere Sequenz passiert etwas sehr unangenehmes: Ich kann die neue Melodie noch langsamer spielen als ich das ganz am Anfang mit der alten Melodie konnte. Das Lernen der ersten „starren“ Sequenz behindert mich beim Lernen einer neuen Sequenz. Das bezeichnen wir als negativen Transfer (oder proaktive Interferenz). Transfer an sich ist keineswegs schlecht, sondern im Gegenteil eher gewollt und bezeichnet im Allgemeinen eigentlich nur die Tatsache, das uns das Lösen einer Aufgabe A beim Lösen einer zweiten Aufgabe B weiterhilft und wir diese schneller lösen können, als wenn wir vorher nicht Aufgabe A gelöst hätten (dies wäre dann positiver Transfer). Immer noch wach? Erstaunlich .

    Nun nur noch ein Denkanstoß: Was wäre wenn uns unser Gitarrenlehrer nicht nur eine zweite Melodie zum Üben gegeben hätte, sondern eine etwas freiere Übung: Er sagt uns immer einen Griff an, den wir spielen sollen bis er ganz spontan wieder einen anderen ansagt. Das macht er einfach mal fünf Minuten lang ohne irgendeiner Sequenz zu folgen. Was meint ihr, sind wir hier besser wenn wir vorher immer nur eine starre Sequenz gelernt haben, oder wenn wir vorher frei variiert haben?

    Nun könnte der aufmerksame Leser natürlich einwenden, dass wir ja beim Training im „bewussten“ Modus sind und daher meine Ausführungen für eine KK nur Schall und Rauch sind. Naja….
    1. Hab ich schon erwähnt, das beide Mechanismen parallel wirken mal der eine mehr, mal der andere.
    2. Ist diese Hypothese des expliziten Modus nicht so ganz schlüssig: Kennt ihr das nicht, dass man im Training 100 Mal eine Sache versucht gut hinzukriegen und auf einmal klappts und ihr köönt aber nicht sagen was ihr beim 101. Mal anders gemacht habt? Siehe Fahrrad Beispiel
    3. Auch wenn wir explizit lernen erleiden wir solchen negativen Transfer, das zeigen z.B. Kontexteffekte im Langzeitgedächtnis und andere Phänomene wie z.B. state-dependent-learning, etc. Wir sind leider oft nicht so flexibel im Hirn wie wir gerne glauben. Gerade fixe Sequenzen „brennen“ sich schnell ins Hirn ein und sind dann schwer zu „löschen“.
    4. Wäre rein explizites Lernen und Abrufen des Gelernten im Kampf viel zu langsam. Zwar ist der implizite Modus noch etwa unflexibler als der explizite, dafür ist der explizite um einiges langsamer. Er wäre uns im Kampf oder im Sparring (nicht das Zeug was ich bisher in meinem Verband gesehen habe) nur sehr wenig von Nutzen.

    Also mein äußerst "wissenschaftliches" Fazit: Sektionen sind Käse!

    Bevor mir das hier einer vorwirft: Meine Ausführungen beruhen nicht auf irgendwelchen spinnerten Theorien von mir, sondern auf empirischen Daten. Diese Daten sind zwar alle aus der Laborforschung verfügen aber über eine ziemlich hohe externe Validität und sind daher wohl auch für die Anwendung relevant. Wenn jemanden die genauen Quellen interessieren, kann ich die gerne posten oder als PM verschicken. Die hier in den Text zu packen würde der Leserlichkeit dann doch eher schaden und ich wollte hier ja kein Paper zur Veröffentlichung an ein Fach-Journal schicken.


    Achja und bevor ichs vergesse: Hallo erstmal KKB Himmel ist das lang geworden. Mea Culpa für dieses Monstrum
    Geändert von BumBumKiwi (18-06-2008 um 22:36 Uhr)

  2. #2
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    Standard

    Herzlich Wilkommen im KKB.

    Dazu kann ich eigentlich nur sagen: "Weniger ist mehr!"
    Was sowohl auf deinen interessanten! Text aber vielmehr auf die Ausgangsfrage, dem Unsinn von Sektionen, zutrifft.

    Grüße, Stefsen

  3. #3
    BumBumKiwi Gast

    Standard

    Danke, Danke. Naja mit der Kürze des Textes hast Du wohl recht. Als Jung-Wissenschaftler tut man sich da meist etwas schwer wenn man tagsüber immer so einen "Gehirnkirmes"-Zeug lesen muss

  4. #4
    *Eric* Gast

    Standard

    ...
    Geändert von *Eric* (24-06-2008 um 10:22 Uhr)

  5. #5
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    Zitat Zitat von *Eric* Beitrag anzeigen
    Jetzt stelle man sich vor, dein Text wären die Bausteine deiner Sektionen. Und du würdest immer den selben Text schreiben. Würde das dir die Möglichkeit verschaffen, auf alle Fragen eine Antwort zu schreiben? Sollte man nicht eher verschiedene Wortkombinationen nutzen um möglichst flexibel zu sein? Sobald du die Wörter in der Richtung festlegt kommt auch immer nur der gleiche Text heraus. Aber schön, dass dir WT Spaß macht. Beim WT geht es nicht ums kämpfen, sondern um die Erkenntnis.
    der letzte satz war ein bisschen gemein,
    aber du hast vollkommen recht mit dem was du sonst sagst.

    gruss johnny

  6. #6
    BumBumKiwi Gast

    Standard

    Zitat Zitat von *Eric* Beitrag anzeigen
    Jetzt stelle man sich vor, dein Text wären die Bausteine deiner Sektionen. Und du würdest immer den selben Text schreiben. Würde das dir die Möglichkeit verschaffen, auf alle Fragen eine Antwort zu schreiben? Sollte man nicht eher verschiedene Wortkombinationen nutzen um möglichst flexibel zu sein? Sobald du die Wörter in der Richtung festlegt kommt auch immer nur der gleiche Text heraus. Aber schön, dass dir WT Spaß macht. Beim WT geht es nicht ums kämpfen, sondern um die Erkenntnis. Willkommen im KKB. Nimmst du die rote oder grüne Pille?

    Oh Du verstehst meine Intention wohl ein wenig falsch: Ich bin keinesfalls "pro" Sektionen, ganz im Gegenteil. Ich finde es gelinde gesagt extreme Zeitverschwendung. Hätte ich das vorher gewusst, dann häte ich mich dort wohl auch nicht für ein Jahr verpflichtet Ich werde meine Konsequenzen aus meinen Beobachtungen schon ziehen. Mein Ziel ist es nämlich kämpfen zu lernen.

    Ich wollt hier nur mal ein kleines "Gedankenexperiment und damit einige Denkanstöße liefern, ohne in das übliche "Ich habe Recht" "Nein, ich..." "Nein ich..." zu verfallen

  7. #7
    *Eric* Gast

    Standard

    ...
    Geändert von *Eric* (24-06-2008 um 10:22 Uhr)

  8. #8
    BumBumKiwi Gast

    Standard

    @Eric
    Naja schade, ich hatte eigentlich überlegt Holger Wiese in D-Dorf mal eine Mail bezüglich eines Probetrainings zu schreiben. Ich hoffe Du möchtest mir jetzt nicht explizit davon abraten
    Um es noch deutlicher zu machen: Eigentlich sollte mein Pamphlet zeigen, warum es aus einer wissenschaftlichen Sicht KEINEN Sinn macht, starre Sektionen zu trainieren. Ich dachte eigentlich das Du mir da als einer der ersten "beispringen" würdest

    Aber natürlich hast Du Recht ;-)

  9. #9
    *Eric* Gast

    Standard

    ...
    Geändert von *Eric* (24-06-2008 um 10:22 Uhr)

  10. #10
    *Rolf* Gast

    Standard

    Zum Thema gibts ganz interessante Texte von einem Professor für Sportwissenschaft an der Düsseldorfer Hochschule. Schöllhorn heisst der. Stichwort "differentielles Lernen" - befrag doch mal das Google-Orakel.

  11. #11
    isetta Gast

    Standard

    .
    Geändert von isetta (08-12-2008 um 19:38 Uhr)

  12. #12
    BumBumKiwi Gast

    Standard

    @isetta

    Du hast Recht, ich bin eine Definition des Begriffs schuldig geblieben . Ich meine mit Sektionen schon die Art von festgelegten Abläufen, die man in der EWTO lernt, also z.B. die CS Sektionen. Also schon komplexere Sequenzen, die aus einer festgelegten Abfolge von Bewegungen bestehen.

  13. #13
    isetta Gast

    Standard

    .
    Geändert von isetta (08-12-2008 um 19:38 Uhr)

  14. #14
    BumBumKiwi Gast

    Standard

    Ich wundere mich ein wenig darüber das so traute Einigkeit bezüglich meines Posts herrscht. Ich hatte ja eigentlich gedacht, dass einige meiner Verbandskollegen sich dagegen stemmen würden. Vielleicht ist der Post aber auch einfach zu abschreckend in seiner Länge

  15. #15
    17x17 Gast

    Standard

    Zitat Zitat von BumBumKiwi Beitrag anzeigen
    Ich wundere mich ein wenig darüber das so traute Einigkeit bezüglich meines Posts herrscht. Ich hatte ja eigentlich gedacht, dass einige meiner Verbandskollegen sich dagegen stemmen würden. Vielleicht ist der Post aber auch einfach zu abschreckend in seiner Länge
    Ich gebe ehrlich zu, dass ich Deinen Text weder als Beweis für die eine Richtung, noch für die andere Richtung sehen kann - soweit habe ich ihn wohl nicht verstanden

    Auf der anderen Seite kann ich aber nur sagen, dass Du - wenn Du gerade Anfänger im Wt bist, wohl auch keinen richtigen Einblick in die Sektionen hast.

    Ich werde jetzt sicherlich kein Loblied auf die Sektionen singen, möchte aber dennoch ganz kurz darauf hinweisen, dass man dem starren Ablauf der Sektion eigentlich nur soweit folgt (folgen sollte) bis man die Inhalte verstanden/gelernt/wie-auch-immer hat.
    Meist bieten die Sektionen einfach nur die verschiedenen Möglichkeiten auf einen Angriff zu reagieren - sozusagen Lösungen für verschiedene Tendenzen des Angriffs.
    Sie sind insofern nichts anderes als ein Drill. Wie die festen Sequenzen Deines Gitarren-Schülers. Sobald die Fingerübung abgeschlossen ist, sollte versucht werden diese Fingerübung in ein freies Spiel einfließen zu lassen.

    und da ist dann - wie ich freimütig zugebe - meistens schluss beim WT. Es wird immer weiter und weiter ge-Chi-Saut, und somit die Fingerübungen gemacht - freies Spiel ist eher selten.

    Ärgerlich ist eigentlich, dass die Sektionen im Großen und Ganzen eine Idee verfolgen, diese Idee könnte einfach und transparent erklärt werden. Die ganzen Varianten, die ebenfalls Bestandteil der sektion sind, vernebeln eigentlich immer nur die Sicht auf den Kern.
    Nach meiner Erfahrung ergeben sich die meisten Verianten ohnehin in der freien Umsetzung.
    Solange man versucht die Kernaussage der Sektion in der freien Anwendung zu üben. Auf diese Art wird dan auch der Strenge Ablauf der Sektion hinfällig.

    Und mein letztendliches Statement:
    Sektionen sind nicht schlecht - ein anwesender Lehrer ist besser.

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