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Gegensatz und Einheit
Heraklit betrachtet die Erfahrungswelt des Menschen als ein Ganzes von Gegensätzen, die ineinander umschlagen und sich von einem Pol zum anderen wandeln. Die Gegensatzpaare folgen dabei nicht nur einem äußerlichen Prozess, sondern sind als Gegensätze schon ineinander verschränkt. Das Umschlagen der Gegensätze geschieht dabei wohl „gemäß Streit und Schuldigkeit“ (κατ᾽ ἔριν καὶ χρεών)[54] im Spannungsverhältnis der jeweiligen Bezugspole. In Fragment B 57 stellt Heraklit beispielsweise Tag und Nacht einander gegenüber. Sie schlagen ineinander um, indem der Tag sich in der Abenddämmerung dem Ende zuneigt, damit das Einsetzen der Nacht bedingend, und indem er wiederum neu entsteht im gegenläufigen Prozess der Morgendämmerung durch den Rückgang der Dunkelheit. So heißt es bei Fleischer: „Beim Umschlagen von Tag in Nacht sind Tag und Nacht eins als das Weggehen des Tages in Einheit mit dem Heraufkommen der Nacht.“[55]
Die Pole eines Gegensatzes sind nur im Kontrast zueinander überhaupt erfahrbar und daher zeitlich nicht getrennt, sondern bestehen in Form einer logischen wechselseitigen Verschränkung zugleich. Wesentlich durch den jeweiligen Gegensatz sind manchen Fragmenten Heraklits zufolge einzelne Begriffe definiert, denn erst „Krankheit macht die Gesundheit angenehm, Übel das Gute, Hunger den Überfluss, Mühe die Ruhe“[56]; Götter werden erst im Kontrast zu Menschen denkbar.[57] Gerade im Gegensatz zeigt sich somit Einheit in Form der Zusammengehörigkeit des Verschiedenen – ein zentrales Thema der heraklitischen Philosophie.
Etwas anders gewendet ist die von vielen verkannte Einheit des scheinbar Gegenstrebigen in Fragment B 51:
„Sie verstehen nicht, wie das Auseinandergehende mit sich selbst zusammengeht: gegenspännige Zusammenfügung wie von Bogen und Leier.“[58]“
Das gemeinsame Merkmal von Bogen und Leier, auf das es Heraklit hier offenbar ankommt, besteht in den einander gegenüberliegenden Schenkeln eines rundgebogenen Holzes, zwischen denen eine oder mehrere Saiten gespannt sind. Wiewohl die jeweiligen Enden auseinander streben, bilden sie doch in beiden Fällen eine funktionsgerichtete Einheit. [59]
Weitere Gegensatzpaare, die sich zur Einheit fügen, sind in folgenden Fragmenten Heraklits enthalten:
Fragment Gegensatzpaare
B 48
„Der Name des Bogens (gr. τόξον) ist Leben (gr. βίος; mit anderem Akzent aber βιός, Bogen), sein Tun Tod.[27] Leben ↔ Tod
B 60
„Der Weg auf und ab ist ein und derselbe.“[60] Aufstieg ↔ Abstieg
B 61
„Meerwasser ist das reinste und scheußlichste: für Fische trinkbar und lebenserhaltend, für Menschen untrinkbar und tödlich.“[61] trinkbar ↔ untrinkbar
lebenserhaltend ↔ tödlich
B 103
„Denn beim Kreisumfang ist Anfang und Ende gemeinsam.“[62] Anfang ↔ Ende
Nochmals zugespitzter begegnet diese Dimension heraklitischen Denkens in Fragment B 88:
„Es ist immer dasselbe, Lebendes wie Totes, Waches wie Schlafendes, Junges wie Altes. Das eine schlägt um in das andere, das andere wiederum schlägt in das eine um.[63]“
Als geheimnisvolles Problem hinter all den Gegensätzen, die Heraklit zur Sprache bringt, sieht Gadamer, „daß dasselbe sich übergangslos als ein anderes zeigt“[64], und er resümiert: „Nicht, wie das Eine in das Andere übergeht, sondern daß es auch ohne Übergang das Andere ist, ist die ‚eine Weisheit‘ Heraklits.“[65]