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Björn Friedrich
Am Boden geht es um zwei Dinge:
1. Befreiung / Vermeiden von Kontrolle
2. Kontrolle
Für den sportlichen Wettkampf gebe ich Dir recht.
Bei der Selbstverteidigung würde ich aber den Fokus anders legen.
Aber vielleicht schildere ich erst einmal, welche Ausgangslage ich mir dabei vorstelle (und dabei gehe ich erst einmal von Situationen aus, die ich selber erlebt bzw. miterlebt habe).
In der SV geht es für mich darum, den Gegner mit möglichst einfachen Mitteln (wenn ich nicht viel Zeit zum Trainieren habe), die unter hohem Stress funktionieren (wenn ich meine Stressreaktion nicht in intensivem Sparring oder mittels Wettkämpfen abgebaut habe), zu beeinträchtigen, so dass eine Flucht möglich ist bzw. ich nach einer (improvisierten) Waffe greifen kann.
Erst einmal nicht mehr.
Dementsprechend sehe ich primär nicht die Befreiungen oder gar die Kontrolle des Gegners als Ziel an, sondern das Beeinträchtigen des Gegners, so dass dieser gar nicht erst Kontrolle über mich ausüben kann.
Ist noch etwas schwammig formuliert, ich versuche es mal an einem Beispiel festzumachen.
Variante 1: Im Stand-Up könnte ich einem Gegner, der auf mich einschlägt, nun durch gute Schrittarbeit ausweichen, durch geschickte Deckungsarbeit seine Schritte verpuffen lassen, durch gute Kombinationen ihn täuschen und ausmanövrieren, bis sich eine Lücke ergibt, so dass ich ihn nach und nach besiegen kann. Das wäre eine Form von Kontrolle.
Variante 2: Oder ich versuche, direkt im ersten Augenblick des Kontakts mit Gewalt in ihn reinzupreschen und ihn mit Schlägen einzudecken, so dass er sofort in die Defensive gerät. Das ist dann eine andere Form von Kontrolle.
Die zweite Variante ist eindeutig grober und hat möglicherweise (wenn man das mit jemandem vergleicht, der Variante 2 beherrscht) auch eine geringere Erfolgswahrscheinlichkeit (wobei ich mir da gar nicht so sicher bin, wenn ich mir die gut funktionierenden Konzepte von sehr angriffsorientierten Systemen betrachte).
Mein Gedanke ist aber der: was kann ich in einer begrenzten Zeit (ich rede hier immer noch vom SV-Training, bei dem Erna, die Hausfrau und Peter, der Steuerberater in begrenzter Zeit das maximal Mögliche für sich herausholen möchten) jemandem beibringen, das in der Praxis auch funktioniert?
Ist es besser, jemandem zu zeigen, wie er theoretisch seinen Gegner mittels geschickter Strategie auf dem Boden kontrollieren kann und er bekommt es (aufgrund mangelnder Übung) in der Praxis nicht hin oder soll ich ihm lieber zeigen, wie er beim ersten Kontakt wie ein Berserker auf den Anderen einschlägt (juristische Überlegungen dabei mal außen vor gelassen), was nicht immer funktionieren mag, aber möglicherweise häufiger zum Erfolg führt, als Variante 1?
Ich habe gar keine Zweifel daran, dass gute(!) Grappler jede untrainierte Person auf dem Boden zerlegen und zusammenfalten können, dafür habe ich schon genug mit Grapplern trainiert.
Aber wie lange brauche ich, um dieses Niveau zu erreichen? Ich habe auch mit einigen Grappling-Novizen (so drücke ich es mal aus) trainiert, und die sahen ziemlich alt aus, als sich da plötzlich jemand nicht so verhalten hat, wie sie es aus ihrem eigenen Training kennen.
Lange Reden, kurzer Sinn: ich glaube, dass im Kontext des (zeitlich und inhaltlich befristeten) SV-Trainings die Neandertaler-Variante besser für die Praxis geeignet ist als eine Grappling-Unterrichtsstrategie, die bei genügend Unterrichtszeit zwar greifen könnte, im Schnelldurchgang die SV-Fähigkeit aber nur geringfügig verbessert.
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Björn Friedrich
Wenn ich vom Boden aufstehen will, was brauche ich, Befreiungen ...
Das wäre ja nun eine Interessante Frage. Was für Alternativen zu den Befreiungen gäbe es denn noch?
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Björn Friedrich
Im Grunde ist es ganz einfach, beißen, kratzen, usw. kann jeder, braucht man nicht groß zu lernen, ...
Nein, ganz so einfach ist es nicht. Wenn ich mit Leuten trainiert habe, die sich auf ihre drei JJ-Tricks und dem Hinweis des Trainers, sie könnten ja auch beißen, verlassen habe, habe ich jedesmal festgestellt, dass diese Leute unter Stress versucht haben, sportlichen Bodenkampf mit mir zu machen. Das Verletzen des Gegners (mittels Schlägen, Tritten, Beißen, Kratzen...) haben sie nicht hinbekommen, versuchten eher in einer Art Greifstarre den Hebel mit Gewalt durchzuziehen. Dies hat natürlich nicht funktioniert, da sie nicht die dafür notwendigen Attribute mitbrachten.
Ich hatte jedesmal den Eindruck gewonnen, dass diese Sackgasse, in der sich meine Trainingspartner befanden, darauf zurückzuführen ist, dass sie nur sehr kurze BJJ/JJ-Einheiten absolviert hatten. Mein Eindruck war es immer, dass sie mit einer „Neandertaler-Strategie“ bessere(!) Chancen (nicht gleichzusetzen mit „100%iger Erfolgsgarantie“) gehabt hätten.
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Björn Friedrich
Ich hab gerade letztes Jahr ein Seminar für SV Leute gegeben und ich war zwar nicht überrascht, aber trotzdem verwundert.
Die Leute waren so verkrampft, das jeder Submission nur 2/3 angezogen werden musste und die Leute aufgegeben haben. Umgekehrt waren sie auch so verkrampft, das sie z.B. viele Submissions gar nicht ansetzen konnten, weil sie nicht locker und eng an den Gegner rangehen konnten.
Genau das, was ich sage.
Waren die Leute nach dem Grappling-Kurs locker und entspannt? Falls „Nein“, dann war der Ansatz für ein SV-Training möglicherweise nicht geeignet. Die Frage ist hier also nicht „Wie presse ich zwei Jahre Grappling-Training in ein Wochenende rein, auch wenn die Leute verkrampft sind“ sondern eher „Was kann ich diesen Leuten an einem Wochenende als Alternative zu Grappling mitgeben, damit sie – so verkrampft sie auch sein mögen – sich dennoch auf dem Boden ihrer Haut erwehren können?“.
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Björn Friedrich
Oder anders gesagt, gegen wen würdert ihr auf der Straße lieber kämpfen:
A) Steuerberater, 35 Jahre alt, keine Kampfsporterfahrung, dafür 2 Kinder und 6 Monate SV Training (egal welcher Stil)
B) Peter Aerts, mehrfacher K1 Champion, wahlweise mit 6 Monaten SV Training, gerne aber auch ohne.:-)
Meine Frage ist hier nicht, gegen wen ich lieber kämpfen würde, sondern wer mich eher angreifen würde.
Peter Aerts hat mich noch nie an der Bushaltestelle abgefangen. Auch nicht Bas Rutten oder Crocop. Aber Ärger mit einem Steuerberater, einem Gerüstebauer oder einem Verkäufer, die alle kein wirklich fundiertes Kampftraining haben – ja, das geht dann doch eher in meine Erfahrung rein.
Ein Champion in einem Vollkontakt-Stil, sei es jetzt Boxen, Sambo oder Karate, wird wahrscheinlich die meisten Angreifer zerlegen.
Aber wie sollte ich den durchschnittlichen Schüler, der nur durchschnittlich talentiert ist und nur hin und wieder trainieren kann, unterrichten? Was sollte ich ihm beibringen bzw. was kann ich ihm überhaupt beibringen, was dann auch funktioniert?
Gruß
Stoiker
Geändert von Stoiker (27-02-2009 um 08:55 Uhr)
"Attack, attack, attack - come at your target from every possible direction and press until his defenses overload. Never give him time to recover his balance: never give him time to counter." (Stover)