Hallo!
In verschiedenen Threads hier im Board war in letzter Zeit häufig von technischen Prinzipien die Rede, die Teilaspekte der Karatetechnik anbetrafen.
Der Umstand, daß es dazu mitunter zwar hitzige Diskussionen, jedoch nie den Versuch gab, die Karatetechnik und deren Wirkungsmechanismen halbwegs vollständig zu erklären, hat mich veranlaßt, diesbezüglich doch einmal einen Versuch zu unternehmen. Natürlich will ich nicht die gesamte Karatetechnik mit allen Teilaspekten versuchen zu erklären, sondern vielmehr einige physikalische Prinzipien ergründen.
Eins noch vorweg:
Aus leidiger Erfahrung weiß ich, daß argumentatives Arbeiten nicht immer gemocht wird und daher mitunter als arrogante Rechthaberei mißverstanden wird.
Daher hier ausdrücklich der Hinweis, daß mein Beitrag als Aufforderung zur Diskussion verstanden werden soll und daß er nicht etwa gedacht ist, DAS Karate, sondern das Karate, welches ich gelernt habe und noch lerne, zu beleuchten.
Wenn jemand anderer Meinung sein sollte, bitte ich um möglichst detalierte Erläuterungen, um das "Andere" der jeweiligen Meinung auch nachvollziehen zu können. Kommentare wie "Du arrogantes A....loch" sind dafür nur sehr begrenzt hilfreich.
Zur Sache:
Im Wesenstlichen sind es zwei Problemkreise, die beim Erlernen der Karatetechnik zu beachten und zu erlernen sind, nämlich
1. wie Energie erzeugt wird und
2. wie diese Energie auf das Zielobjekt übertragen werden kann.
Aus dem Physikunterricht wissen wir, daß bei mechanischen Energieerzeugungsmodellen im Wesentlichen zwei Faktoren in die Berechnung einbezogen werden: die Masse und die Geschwindigkeit.
Beide Faktoren wirken auf die erzeugte Energie, wenn auch unterschiedlich, dem Prinzip nach aber doch in der Form ein, als daß eine Steigerung der Faktoren auch einen Energiezuwachs mit sich bringt.
Der Masse will ich weiter unten noch ein wenig Raum geben, daher zunächst einige grundsätzliche Überlegungen zur Geschwindigkeit.
Wer den Körper schnell machen will, muß zunächst verstehen, wie er funktioniert.
Natürlich ist es die Muskelkraft, die den Körper bewegt und damit schnell macht. Dabei ist jedoch zu beachten, daß einzelne Muskeln immer im Zusammenspiel mit ihrem Gegenspieler (Antagonisten) betrachtet werden müssen und zwar dergestalt, daß, wenn sich ein Muskel spannt, die resultierende Bewegunsschnelligkeit immer nur so hoch ausfällt, wie es der jeweilige Gegenspieler durch seinen Spannungszustand zuläßt. Das will heißen, daß eine schnelle Bewegung immer nur dann gelingt, wenn der Gegenspieler eines beteilgten Muskels dies durch größtmögliche Entspannung auch ermöglicht.
Demzufolge läßt sich sagen, daß eine schnelle Bewegung nicht etwa eine möglichst entspannte Bewegung ist, sondern eher eine Bewegung frei von UNNÖTIGER Spannung. Diese Unterscheidung ist wichtig.
Damit ist zum oben unter 1. genannten Problemkreis eigentlich schon viel gesagt, da klargestellt ist, daß beim Karate unter Einsatz der Körpermasse mittels Geschwindigkeit Energie ERZEUGT wird.
Klargestellt ist jedoch noch nicht, wie diese Energie unter Beachtung der verschiedenen zu Verfügung stehenden Massen erzeugt und dann auch übertragen wird.
Zur Erklärung dieses Problemkreises möchte ich verschiedene Fallgruppen bilden.
A. Der federnde Schlag
Am einfachtsen zu verstehen ist der Fall, daß durch eine exorbitante Beschleunigung eine so hohe Geschwindigkeit erzielt wird, daß selbst kleinste Massen zu einer solch hohen Bewegungsenergie führen, daß diese ausreichend ist, die Festigkeit des Zielobjekts zu überwinden (= Zerstörung oder Deformation) oder wenigsten Bewegungsenergie auf diese zu übertragen, indem dessen Masseträgheit überwunden wird (z.B. Wegstoßen des Gegners).
Selbstredend müssen die hierbei eingesetzten Massen vergeichsweise klein sein, wie z.B. bei einer Gewehrkugel, da große Massen die für diese Fallgruppe notwendige Geschwindigkeit mit menschlischer Kraft nicht erreichen können.
Die Energieübertragung findet bei dieser Fallgruppe durch Übetragung der hohen Bewegungsenergie, die maßgenblich durch die hohe Geschwindigkeit erzeugt wurde, statt. Die bei diesem Modell entstehende Bewegungsnergie ist aufgrund der ihrer Höhe und in Abhängigkeit vom getroffenen Zielobjekt (das hierfür natürlich klug ausgewählt sein muß) so überschießend, daß sie die nach dem 3. Newtonschen Satz auch auf Erzeugersystem zurückwirkende Energie auffängt.
Gut vorstellen kann man sich das anhand eines Gummiballes, der normalerweise von einer Wand abprallt. Wird dieser Gummiball aber so hoch beschleunigt wie ein Hochgeschwindigkeitsgeschoß, durchschlägt er die Wand und fängt die auf ihn rückwirkende Energie wegen der hohen Eigenenergie ab.
Wir sehen sehr gut, daß dieses System aber schnell an seine Grenzen stößt: Zum einen ist die menschliche Fähigkeit, Massen hoch zu beschleunigen, sehr begrenzt. Zum zweiten unterstellt dieses Modell, daß die in Abhängigkeit von der Beschaffenheit des Zielobjektes (vor allem dessen Masse) auf das Erzeugersystem rückwirkende Energie immer durch ein hohes Maß überschießender Energie kompensiert werden kann.
Demzufolge ist der Anwendungsbereich dieses Prinzips auf einige Fallgruppen begrenzt, namentlich bei Zielen, die keine allzu hohe Eigenmase aufweisen und die durch geringe Elastizität nur wenig Energie absorbieren.
Namentlich aber auch auf Techniken, bei denen eben nicht so hohe Massen beschleunigt werden müssen. Das sind die sog. federnden Schläge, also schnell geschnappte Techniken, wobei Uraken-uchi hier als Präzedenzfall gelten kann, da es auch Schlagtechniken gibt, die sich eher eines durchdringenden Wirkprinzips bedienen (wie z.B. Tettsui-uchi).
So wie es aber auch bestimmte Stoßtechniken gibt, die sich, in Abweichung vom sonst bei den Stoßtechniken vorherrschenden durchdringenden Prinzip, eines federnden Mechanismusses bedienen.
Schließlich bleibt für diese Fallgruppe noch zu beleuchten, wie die auf die Schlaghand rückwirkende Energie nicht dazu führt, daß im schlimmsten Fall die Festigkeit der eigenen Hand überwunden wird.
Zum Glück wurde durch medzinisch-physikalische Untersuchungen nachgewiesen, daß die Rechnung nicht so einfach ist, daß man nur die "Härtegrade" von z.B. Faust und Zielobjekt zu vergleichen brauche, um festzustellen, welche Materie die andere zu durchdringen in der Lage sei. Vielmehr ist es so, daß z.B. die menschliche Hand allein wegen ihres Aufbaus viel "härtere" Zielobjekte "zerschlagen" kann.
Allein dies hilft aber nicht vollends, so daß es im Moment des Auftreffens zusätzlich eines stabilisierenden Anspannens z.B. der Hand bedarf.
B. Der durchdringende Schlag
Aufgrund der Begrenztheit des federnden Prinzips wird im Karate ein zweites, im Shotokan sogar bedeutsameres, Prinzip verwendet: Zur relativ kleinen Masse von z.B. der Hand wird zur Energieerzeugung die Masse des gesamten Körpers hinzuaddiert.
Dies verlangt natürlich eine der (recht schnellen) Bewegungsgeschwindigkeit der Hand angepaßte Bewegungsgeschwindigkeit des Körpers, was sehr schwer ist und zu erreichen eines der maßgeblichsten Ziele des Grundschultrainings darstellt.
Wird aber allein dadurch, daß wir hier mit dem gesamten Körper arbeiten, auch automatisch die Masse des gesamten Körpers gegen das Ziel in Form von sich entäußernder Energie eingesetzt?
Nein.
Um das zu verstehen ein Beispiel: Stellen wir uns einen mit Wasser gefüllten Ballon vor, den wir auf den Boden fallen lassen. Der Ballon hat eine recht hohe Masse und wird durch die Schwerkraft beschleunigt, kann dieses hohe Potential aber nur begrenzt umsetzen, da die Masse des Ballons in sich nicht fest genug ist. Das leicht deformierbare Wasser führt dazu, daß der Ballon beim Auftreffen quasi "breitläuft".
Damit uns das beim Karate nicht auch passiert, müssen die vielen durch Gelenke miteinander verbundenen Einzelmassen des Körpers zu einem festen Verbund werden. Dies gelingt durch Körperspannung, welche die Gelenke fixiert.
Aber auch dieses Modell weißt bisher noch einen grundlegenden Fehler auf, da es nämlich unterstellt, daß die bewegte Masse des Körpers Energie in so einem hohen Maße erzeugt, daß sich die Technik in das Ziel "hineinfressen" (also zerstören oder deformieren) oder dieses wegdrücken/-stoßen kann.
Was ist aber, wenn das Ziel zu fest ist, um zerstört oder deformiert zu werden, oder wenn es zu viel Masse hat, um weggedrückt werden zu können, wenn also das Ziel (mehr oder minder) widersteht? Im Extremfall entlädt sich hier die gesamte freigesetzte Energie im Erzeugersystem selbst. Eine grausige Vorstellung!
Nun kann man entgegnen: Selbst schuld! Wer schlägt schon gegen Betonmauern!?
Sicher kein vernünftiger Mensch, aber die Grenzen sind fließend. Was ist genau in diesen Grenzfällen?
In diesem Fall (aber natürlich nicht nur hier) benutzt der Karateka die größte Masse, die man sich überhaupt vorstellen kann: die Erde. Damit sich die auf ihn mit voller Wucht zurückwirkende Energie nicht in ihm entlädt (und sei es "nur" als Bewegungsenergie), fixiert er seinen Körper zwischen seinem Ziel und dem Erdboden, wozu natürlich wieder Spannung vonnöten ist (in diesem Fall sogar ein sehr hohes Maß).
Sehr gute Beispiele für dieses Prinzip sind die langen Fauststöße des Shotokan, die auf einen sicheren Stand gestützt sind.
Schlußfolgerung:
I.
Die Karatetechnik bedarf, um Kraft entwickeln zu können, hoher Bewegungsgeschwindigkeit, die durch ein ausgewogenes Verhältnis von Spannung und Entspannung zustande kommt.
II.
Die Kraftübertragung bedarf darüber hinaus, je nach Anwendungsfall kumulativ oder separat, im Augenblick des Auftreffens folgender Körperspannungen:
- Spannung der Körperwaffe selbst (z.B. der Faust)
- Spannung des Körpers, um dessen verschiedene Teilmassen zu einer großen Masse zu verbinden
- Spannung des Körpers, um diesen in sich fest an einem externen Bezugssystem zu fixieren.
Diese Spannung im Augenblick des Auftreffens ist sehr, sehr kurz. Bei sehr geübten Karateka hat dieser Fokus lediglich eine Dauer von 50 - 100 ms.
MfG
Jens