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I. Die Sachverhalte

Fall A.

Hans Budo, 23 Jahre alt, l. Dan Karate-Do (Person frei erfunden), geht abends vom Training nach Hause. Im dämmerigen Stadtpark tritt ein Angreifer auf ihn zu und verlangt Geld, anderenfalls werde er zusammengeschlagen. Hans Budo weigert sich. Daraufhin schlägt der Angreifer mit der Faust zum Kopf von Hans Budo.


a) Hans Budo blockt den Angriff mit haiwan-uke links und kontert mit gyaku-zuki rechts zum solar plexus des Angreifers; der klappt zusammen, ist aber nach einer Viertelstunde wieder auf den Beinen und bis auf einen blauen Fleck unversehrt.

b) Hans Budo denkt sich "das ist ja die Gelegenheit, das Gelernte mal richtig auszuprobieren und dem Gegenüber ordentlich einzuschenken", blockt mit haiwan-uke links und schlägt mit gyaku-zuki zum solar plexus, worauf der Angreifer zusammenklappt. Hans Budo erinnert sich an eine der letzten Techniken aus der Kata heian yondan, greift den Kopf des Angreifers und stößt einen hiza-geri hinein. Der Angreifer geht zu Boden. Hans Budo ist enttäuscht, daß dieses Weichei sofort am Ende ist und macht weiter mit mehreren fumikomi zu Kopf und Körper des wehrlos am Boden liegenden. Der erleidet einen Nasenbeinbruch, den Verlust mehrer Zähne, einige Rippenbrüche und multiple Prellungen am Körper. Er liegt eine Woche im Krankenhaus und ist für 3 Wochen arbeitsunfähig.

c) Hans Budo wehrt sich wie oben unter a), aber der Angreifer ist sehr viel größer und kräftiger als Hans, der von dem Angriff ziemlich geschockt ist und große Angst hat -schließlich hat er gelernt, daß auch der schwarze Gürtel keine Garantie für den Sieg ist. Deshalb macht er weiter mit otoshi-empi-uchi in den Rücken des sich vor Schmerzen krümmenden Angreifers und bringt ihn schließlich mit einem hiza-geri in die kurzen Rippen zu Boden. Der Angreifer erleidet dadurch Rippenbrüche und Prellungen.


d) Hans Budo blockt mit links und schlägt mit hiraken-uchi zur Kehle des Angreifers. Dem wird die Luftröhre eingedrückt; er stirbt durch Ersticken.


e) Angriff und Block wie oben unter a. Hans plaziert den gyaku-zuki aber nicht auf dem plexus, sondern mit voller Wucht unterhalb der Nase zum Kopf des Angreifers. Der sürzt nach hinten zum Boden, bricht sich den Schädel beim Aufprall des Kopfes auf dem Asphalt und stirbt.


f) Der Angreifer hebt die rechte Hand, weil er sie zur Faust ballen und damit Hans ins Gesicht schlagen will. . Hans Budo ist mit gyaku-zuki zum plexus des Angreifers schneller. Der Angreifer klappt zusammen. Weiteres wie oben unter



a).

Fall B

Hans Budo hört, wie im Stadtpark jemand unter Androhung von Prügel einen alten Mann zur Herausgabe seiner Brieftasche zwingen will. Als der sich weigert, holt der Angreifer mit der rechten Faust aus, um zuzuschlagen. Hans eilt hinzu und tritt dem Angreifer von der Seite einen mawashi-geri zum plexus. Der klappt zusammen.

Fall C

Hans Budo geht in die Disco. Er sieht Berta von Olälä, in die er heftig verliebt ist, mit Emil dem Schleimigen, der von Hans' Gefühlen nichts ahnt und dem Berta schöne Augen macht, ins Gespräch vertieft am Tresen stehen. Hans ist eifersüchtig, bestellt sich ein Bier und kippt es Emil ins Gesicht mit den Worten: "Schlag'mich doch, schlag'mich doch!". Emil, der Berta einfach nur nett findet und sonst nichts von ihr will, ist sauer und holt mit der Rechten aus um Hans richtig eine zu verpassen, aber der ist mit kisami-zuki zum Kopf schneller. Emil taumelt zurück und Hans, der sich vor Berta dicke tun will, bringt Emil mit ura-mawashi-geri zum Kopf zu Boden. Emil wird bewußtlos und erleidet einen Jochbeinbruch.


II. Die juristische Bewertung

A. Die Grundfrage

Sie lautet: Was durfte Hans Budo tun, als er angegriffen wurde, ohne sich strafbar oder ersatzpflichtig zu machen?
Für unseren Helden können sich bei einer falschen Reaktion auf den Angriff ganz unterschiedliche Konsequenzen ergeben, zum einen strafrechtlicher Art (damit ist gemeint, ob er vom Gericht in einem Strafprozeß zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe verurteilt wird) und zum anderen zivilrechtlicher Art (damit ist gemeint, ob er von dem zusammengeschlagenen Angreifer in einem Zivilprozeß auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Anspuch genommen werden kann oder ob Krankenversicherung, Arbeitgeber und das Land sogenannte Rückgriffsansprüche gegen Hans Budo geltend machen können, weil sie ihrerseits Aufwendungen für den zusammengeschlagenen Angreifer hatten, etwa Arztkosten, Lohnfortzahlungen oder Renten etc.). Die Folgen könnten für Hans Budo also erheblich sein. Anwalt, evtl. Geldstrafe, Schadensersatz und Schmerzensgeld, Rückgriffsansprüche. Daß beispielsweise bei einer Krankenhausbehandlung schnell sehr hohe Summen zusammen kommen können, liegt auf der Hand. Damit droht Hans Budo der finanzielle Ruin! Was das für einen 23jährigen bedeutet, bedarf keiner näheren Erläuterung.
Faustregel: Wer sich nicht strafbar macht, ist auch nicht schadensersatzpflichtig. Deshalb beschränkt sich diese Darstellung auf den Bereich der strafrechtlichen Notwehr und Nothilfe.

B. Die gesetzlichen Grundlagen

Grundsätzlich gilt: Wer angegriffen wird, darf sich verteidigen. Wer sich im erlaubten Rahmen verteidigt, mach sich weder strafbar noch zivilrechtlich ersatzpflichtig. Was ist nun erlaubt? Folgen wir der alten Juristenregel, die da lautet: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. Wir greifen also zum Strafgesetzbuch (StGB). Dort heißt es u.a.:
§ 32 (Notwehr) Absatz l: Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig. Absatz 2: Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.
§ 33 (Überschreitung der Notwehr) Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft.
§ 34 (Rechtfertigender Notstand) Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.

C. Die Erläuterungen

a. Allgemeines
Beim Lesen des Gesetzes merkt man schnell, daß man davon allein nicht viel schlauer wird. Dafür ist der Gesetzestext zu sehr kondensiert. Um zu verstehen, was der Gesetzgeber gemeint hat, muß der Text erläutert werden. Im juristischen Alltag gibt es dazu teilweise sehr umfangreiche sogenannte Kommentarliteratur (Schönke-Schröder und Tröndle-Fischer dürften die bekanntesten sein) und amtliche Sammlungen von Entscheidungen der Obergerichte (z.B. BGHSt) oder juristische Zeitschriften (etwa NJW oder NStZ u.v.a.), in denen sich Gerichtsentscheidungen und Aufsätze finden. Das Problem der Erläuterung haben also Laien wie Juristen gleichermaßen!
Zum grundlegenden Verständnis ist zunächst wichtig zu wissen, daß die Notwehr ein Teil der Selbsthilfe ist. Selbsthilfe ist grundsätzlich verboten - es sei denn, es droht die unmittelbare Gefahr eines Schadenseintritts und ein staatliches Handeln ist nicht rechtzeitig erreichbar. Für den gesamten Rest gibt es den Anspruch auf Hilfe durch Polizei und Gerichte. Das Verbot der Selbsthilfe ist eine der größten zivilisatorischen Leistungen überhaupt und weltweit die Grundvoraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen. Im Zweifel muß man sich also an Polizei und Gerichte wenden.
b. Erläuterung des Gesetzes
aa. zu § 32 StGB
Die beiden Absätze müssen im Zusammenhang gelesen werden. Nur aus Gründen der Verdeutlichung hat der Gesetzgeber sie getrennt. Notwehr setzt voraus:
- die Verteidigungslage,
also einen gegenwwärtigen, rechtswidrigen Angriff durch einen Menschen (also nicht z.B. durch einen streunenden Hund; anders dann, wenn der Hund durch einen Menschen aufgehetzt wird) gegen individuelle Rechtsgüter (z.B. Leben, Leib, Gesundheit, Eigentum, Ehre etc) eines anderen Menschen, entweder des Angegriffenen selbst oder eines Dritten, dem geholfen werden soll.


Gegenwärtig ist ein Angriff, der entweder unmittelbar bevorsteht (oben Fall d) begonnen hat oder noch fortdauert (Angreifer läuft mit der gerade der Oma aus der Hand gerissenen Handtasche davon).
Rechtswidrig ist ein Angriff, wenn der Angreifer rechtswidrig handelt; davon kann man regelmäßig ausgehen. Anders ist das bei Polizei, Gerichtsvollziehern etc., weshalb es in einem solchen Fall kein Notwehrrecht gibt. Berechtigte Angreifer dürften aber im Regelfall durch Uniform und/oder Ausweis erkennbar sein. Wenn sich jemand im Rahmen der Notwehr rechtmäßig verteidigt, hat der Angreifer gegenüber der Verteidigung des Angegriffenen kein eigenes Notwehrrecht, denn der Verteidiger handelt seinerseits rechtmäßig (keine Notwehr gegen Notwehr). Die denkbaren Irrtumsfälle sind juristische Spezialmaterien und würden den Rahmen dieser Abhandlung sprengen, weshalb sie hier nicht mitbehandelt werden.
- den Verteidigungswillen,
also die Kenntnis der Verteidigungslage und den Willen, sich zu verteidigen. Daran fehlt es z.B. im Fall b), weil Hans Budo sich nicht verteidigen, sondern das Gelerate ausprobieren will. Zu den Folgen unten mehr.
- die Erforderlichkeit;
dies bedeutet, daß der Verteidiger unter mehreren zur sofortigen Beendigung des Angriffs geeigneten Mitteln dasjenige wählen muß, das den Angreifer am wenigsten schädigt (Prinzip des geringstmöglichen mehrerer geeigneter Mittel). Hier liegen die Probleme der Notwehr! Es kommt dabei nicht darauf an, ob das verteidigte Rechtsgut geringwertiger ist als das durch die Verteidigung gefährdete Rechtsgut des Angreifers (Beispiel: A reißt dem B ein Buch aus der Hand. B drückt A gegen eine Wand, um ihm das Buch zu entwinden. A erleidet durch eine Verkettung unglücklicher Umstände eine Platzwunde am Kopf. Daß der Sachwert des Buches geringer zu bewerten ist als die körperliche Unversehrtheit des Angreifers, ist im Rahmen der Notwehr unerheblich - sonst müßte man sich ja widerstandslos beklauen lassen!). Mit anderen Worten: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt nicht! Dies ist ein häufiger, unter juristischen Laien scheinbar unausrottbarer Fehler. Gemeint ist meist zwar das richtige, nämlich das Prinzip des geringstmöglichen Mittels, aber den Juristen schaudert's. Warum? Weil das Prinzip der Verhältnismäßigkeit ein juristisch-technischer Begriff ist, den Laien mißverstehen. Zum Verständnis möchte ich den juristischen Laien bitten, sich § 34 StGB einmal anzuschauen. Dort heißt es im zweiten Halbsatz von Satz 1: ... wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen usw (bitte einmal ganz langsam und genau durchlesen!). Verhältnismäßigkeit heißt also, daß man eine sog. Güterabwägung treffen muß, wobei das Gut "Leben" das höchste Gut ist, dem alle anderen Güter untergeordnet sind. Eine Sache ist also immer weniger wichtig als Leben und Gesundheit. Wenn der Grandsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Notwehr gälte, dürfte man z.B. nicht mit einem Revolver auf die Beine von jemanden schießen, der einem das Portemonnaie geklaut hat und damit wegrennt (wenn der Revolverschuß das einzige noch verbliebene Verteidigungsmittel ist, um den Dieb am Sichern der Beute zu hindern), weil das Rechtsgut Leib und Leben (des Angreifers) deutlich über dem Rechtsgut Eigentum (des Angegriffenen) stünde. Diese Beschränkungen hat der Gesetztgeber im Rahmen der Notwehr nicht gewollt, sonst hätte er im Text des § 32 StGB den gleichen Satzteil eingeflochten wie im § 34. StGB.

Der Gesetzgeber hat sich dabei von zwei Überlegungen leiten lassen: Zum einen braucht das Recht dem Unrecht nicht zu weichen und zum anderen tritt der in Notwehr Handelnde zugleich für den Bestand der Rechtsordnung ein in einem Zeitpunkt, in dem es Polizei und Gerichte nicht können, weil sie von dem Angriff nichts wissen und zur Verteidigung zu spät kämen. Man sollte nun aber nicht in sebstgefalliger Weise mit der stolzgeschwellten Brust des Kämpfers für die Rechtsordnung dem Angreifer mal so richtig zeigen, wo' s langggeht und wer der Chef im Ring ist. Unsere Budo-Ethik gibt hier mit den Grundätzen Selbstbewußtsein, Bescheidenheit und Verantwortung für Leib und Leben auch des Angreifers die richtige Meßlatte vor. Gerade bei ausgebildeten Kampfsportlern wird von der Rechtsordnung besondere Umsicht erwartet. Der Bundesgerichtshof sagt dazu (in NJW 1976, Seite 634 a.E.): "Verfugt der Verteidiger über eine Waffe und ist dies dem Angreifer unbekannt, so wird von dem Verteidiger je nach Kampflage häufig zu erwarten sein, daß er die Verwendung der Waffe androht, ehe er sie zum Einsatz bringt. Nicht anders wird es regelmäßig zu beurteilen sein, wenn der Verteidiger als ausgebildeter Boxer oder Ringer einem ungeübten Angreifer weit überlegen ist und damit rechnen kann, daß schon der bloße Hinweis auf die eigene Fertigkeit ihre Wirkung haben und den Angreifer zur Aufgabe veranlassen wird."

Unsere Ausbildung wird mit einer Waffe gleichgestellt! Ansonsten sagt der Bundesgerichshof uns nichts anderes als das, was uns der gesunde Menschenverstand und unsere Ethik auch schon sagen. Wichtig ist der Ausdruck "Kampflage". Wenn einem ein augenscheinlich völlig untrainierter ohne irgendwelche Warfen gegenübertritt, ist es vielleicht angebracht, auf seine Karatekenntnisse hinzuweisen. Anders dann, wenn das Gegenüber ein großer, drahtiger Typ mit "Taekwondo"-T-Shirt ist. Da wäre es unklug, sich des Überraschungsmoments der eigenen Kampfsportkenntnisse zu begeben. Im übrigen gilt:

- das Verbot des Rechtsmißbrauchs.

Das ist ein Grundsatz, der das ganze Recht durchzieht: Schweinereien macht das Recht nicht mit, man darf nicht hämisch auf sein Recht pochen, wenn man das nur tut, um bei lächerlichem eigenen Nutzen einem anderen zu schaden. Das Notwehrrecht ist zwar schneidig, unterliegt aber dieser allgemeinen Grenze.

Wenn der Angreifer erkennbar schuldlos ist (kleine Kinder, sinnlos Betrunkene, der mit dem Krückstock drohende, völlig weggetretene Opa etc) dann darf man nicht einfach draufhauen, sondern muß die Situation unter möglichster Schonung des Angreifers entschärfen. Auch wenn ein unerträgliches Mißverhältnis zwischen Angriff und Verteidigung besteht, greift ausnahmsweise selbst der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen des Verbots des Rechtsmißbrauchs. Beispiel: V ist querschnittsgelähmt und hat einen Garten mit Kirschbäumen. Zur Erntezeit steigt der 16jährige Schüler A, so ein richtiger Lausebengel, hinein und ißt welche davon. V greift zum Luftgewehr und schießt den A aus dem Baum. Das geht natürlich nicht! Der Angriff eines Kindes hat genau wie der Verlust der Kirschen ein so geringes Gewicht und der dem Lausebengel drohende Schaden ist so hoch, daß hier ein Fall des Rechtsmißbrauchs vorliegt, weil ein krasses Mißverhältnis zwischen dem Angriff (eines Kindes), dem beeinträchtigten Rechtsgut (Eigentum an den Kirschen) und dem drohenden Schaden (Leib und Leben des Lausebengels durch den Schuß und den Sturz aus dem Baum mit drohendem Knochen- und Genickbruch) vorliegt.
Schließlich fallen unter das Verbot des Rechtsmißbrauchs auch die Provokationsfalle: Wer einen anderen zu einem Angriff herausfordert, darf sich, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt verteidigen. Einen eigenen Gegenangriff zur Verteidigung starten darf er grundsätzlich nicht! Schlagwort: Allenfalls Schutzwehr, keine Trutzwehr. Also Finger weg von Provokationen!

Die sehen Gerichte gar nicht gerne.
bb. zu § 33 StGB

Hier trägt der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung, daß eine im Rahmen einer Notwehrhandlung gegebene Kampflage den Verteidiger unter erheblichen Streß setzt mit der Folge, daß er aus dem Impuls der Situation heraus instinktiv unter Ausschalten bewußter Steuerung mehr tut, als er tun muß, um den Angriff abzuwehren. So liegen die Dinge in Fall c.
cc. zu § 34 StGB

Diese Vorschrift betrifft den sogenannten Notstand. Das ist ein Zustand gegenwärtiger Gefahr für rechtlich geschützte Interessen, dessen Abwendung nur auf Kosten fremder Interessen möglich ist.

Ein Beispiel: A und B sind mit Rucksack und Zelt in den Cairngorms in Schottland zum Bergsteigen unterwegs. B stürzt und zieht sich ein gebrochenes Bein sowie einen Schädelbasisbruch zu: Blut läuft aus den Ohren und der Nase, es besteht Lebensgefahr. A hat kein Funkgerät oder Handy bei sich. Er bricht den zufällig einsam in der Nähe stehenden Landrover des Bauern C auf, um damit schnell Hilfe holen zu fahren; anschließend erhält C den Wagen zurück. Hier überwiegt das gefährdete Interesse (Leib und Leben des B) das geschützte Interesse des C (Nutzungsmöglichkeit des Landrover) erheblich; A durfte den Wagen nutzen. Hier haben wir den Fall der Güterabwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip; im Rahmen der Notwehr kommt es darauf, wie wir gesehen haben, grundsätzlich nicht an. Anders lägen die Dinge dann, wenn A und B lediglich Brennstoff für den Kocher vergessen hätten; dann dürften A den Wagen nicht aufbrechen, um Brennstoff kaufen zu fahren. Sie müßten die Ravioli eben kalt essen und auf diese Weise ihre Schlamperei bei der Vorbereitung selbst ausbaden. Im Grunde ist die Abwägung unter Einschaltung des gesunden Menschenverstandes gar nicht so schwer. Der Notstand wurde in diese Darstellung im wesentlichen aus systematischen Gründen aufgenommen, damit das Notwehrprinzip deutlicher wird.

D. Die Lösungen der Fälle

Fall A

Variante a
Der klassische Fall richtig ausgeführter Notwehr: Ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff durch den Schlag zum Kopf, eine Verteidigung, die den Angriff sofort beendet und, weil sie die geringsten Auswirkungen auf den Angreifer hat, das mildeste Mittel ist, also den Anforderungen der Erforderlichkeit genügt. Keine rechtsmißbräuchliche Verteidigung. Hans hat strafrechtlich wie zivilrechtlich nichts zu befurchten.

Variante b
Das sollte nicht sein! Es fehlt bereits am Verteidigungswillen; Hans will sich nicht verteidigen, sondern die Gelegenheit nutzen, mal richtig auszuteilen. Im übrigen ist die Erforderlichkeit nach dem Schlag zum plexus nicht mehr gegeben. Hans handelt rechtswidrig. Die Folgen sind fiir ihn erheblich;
a. strafrechtlich
Hans hat eine vorsätzliche, gefahrliche Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung (fumikomi zum Kopf) begangen. Folge: Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Wenn noch eine dauernde Entstellung beim Angreifer hinzukommt (z.B. häßliche Narbenbildung), dann ist die Folge Freiheitsstrafe von nicht unter einem Jahr. Wenn Hans ansonsten unbescholten ist, dürfte eine Freiheitsstrafe von unter 2 Jahren herauskommen, die wohl zur Bewährung ausgesetzt würde. Der Mißbrauch der Karateausbildung wird sicher strafschärfend vom Gericht bewertet werden! Die Strafe wird im Bundeszentralregister eingetragen, Hans ist also vorbestraft.
b. zivilrechtlich
Der Angreifer wird ein Schmerzensgeld einklagen und auch bekommen, das bei dem Verletzungsbild einen Betrag von um 1000 Büro erreichen oder übersteigen kann; dies ist sehr stark Ermessenssache des Gerichts. Wenn der Angreifer einen Arbeitsplatz hat, muß ihm der Arbeitgeber zwar seinen Lohn für die drei Wochen Arbeitsunfähigkeit weiterzahlen, wird sich diese Geld aber im Wege des Regresses von Hans Budo wiederholen. Gleiches gilt für die Krankenkasse, die die Kosten für die Behandlung vorgestreckt hat. Wenn Dauerfolgen beim Angreifer zurückbleiben und ihm das Land daher z.B. eine Rente zahlt, wird sich das Land dieses Geld ebenfalls bei Hans Budo zurückholen. Damit sieht die Zukunft für Hans düster aus.

Variante c
Hier liegt eine Notwehrlage vor. Hans handelt mit Verteidigungswillen, tut aber aus Angst mehr als nötig, überschreitet also die Grenzen der Erforderlichkeit. Hier greift zu seinen Gunsten § 33 ein, so daß Hans straffrei ausgeht und auch zivilrechtlich nicht belangt werden kann.

Variante d
Auch dies sollte nicht sein: Die Erforderlichkeit ist drastisch überschritten. Hans ist strafbar, entweder wegen Körperverletzung mit Todesfolge oder wegen Totschlags; wenn er den Tod des Angreifers gewollt oder billigend in Kauf genomen hat, letzteres. Er wird um das Gefängnis kaum herumkommen. Zivilrechtlich treffen ihn die Folgen wie unter Variante b.

Variante e
Hier könnte Hans den Angreifer auch mit dem Schlag auf den plexus stoppen. Er wählt nicht das geringste Mittel, denn der Angriff zum Kopf bedeutet für den Angreifer immer eine stärkere Gefahr als zum Rumpf; das Ergebnis (Sturz des Angreifers auf den Hinterkopf), wie im Fall dargestellt, ist mir im Rahmen richterlicher Tätigkeit nicht nur einmal untergekommen. Im Zweifel wird das Gericht angesichts der Ausbildung von Hans, wenn nicht eine besondere "Kampflage" vorliegt (Hans ist klein und schmächtig, der Angreifer groß, stiernackig und mit einem T-Shirt mit "Kickboxen"-Aufschrift bekleidet) davon ausgehen, daß die Erforderlichkeit im Rahmen der Notwehr nicht gegeben war und Hans sich strafbar gemacht hat. Hans wird möglicherweise wegen Körperverletzung mit Todesfblge verurteilt, was eine Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren zur Folge hat, die Hans absitzen muß, weil sie nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Also Vorsicht damit! Zivilrechtliche Konsequenzen wie oben unter Variante b.

Variante f
Hier steht der Angriff unmittelbar bevor, so daß die Notwehrlage gegeben ist. Beurteilung wie Variante a

Fall B

Klassische Nothilfe. Beurteilung wie Fall A Variante a.

Fall C

Auch das sollte nicht sein! Krasser Fall des Verstoßes gegen das Verbot des Rechtsmißbrauchs durch Provokation der Notwehrlage. Hier kam es Hans auch darauf an, Emil zu provozieren. In dieser Situation darf Hans sich nicht gegen den von ihm provozierten Angriff wehren, sondern muß das Feld räumen. Wenn er nicht wegkann, darf er die Schläge nur abblocken, aber grundsätzlich keinen Gegenangriff starten (Nur Schutzwehr, keine Trutzwehr), es sei denn, die Provokation wäre "verbraucht", weil der Provozierte nun seinerseits Spaß daran findet, auf Hans einzuprügeln und die Provokation ausnutzt um endlich mal richtig draufzuhauen zu können (Rechtsmißbrauch). Dieser Fall ist aber rein juristisch sehr schwierig und man sollte auf keinen Fall dumme Experimente machen. Folgen wie unter Fall A Variante b.
III. Verhaltensmaßregeln für Budoka

a. im täglichen Leben
Grundregel: Die beste Verteidigung ist die, die gar nicht stattfindet. Also geht man nicht in Kneipen, von denen man weiß, daß dort leicht ein Streit ausbricht. Man verläßt ein Schützenfest am besten bevor Betrunkene stänkern und spätestens dann, wenn man bemerkt, daß es Streit gibt. Man geht nicht im Dunkeln durch bekannt dubiose Ecken. Man starrt im Lokal keine Leute an oder schaut einer Frau in den Ausschnitt.
Wenn es zu einer Auseinandersetzung mit jemandem kommt., sollte man freundlich und selbstbewußt, aber keinesfalls provozierend auftreten und die Situation zu entschärfen suchen. Lieber ein Bier ausgeben als sich schlagen. Auf das Gegenüber höflich und selbstbewußt eingehen, aber keine Furcht durchblicken lassen - bloß keine "Opferhaltung"!. Das ist psychologisch ungünstig, denn es bestärkt den oft noch zaudernden potentiellen Angreifer in der Meinung, daß man als Opfer in Betracht komme. Wenn eine Notwehrhandlung unumgänglich ist, sollte man nach deren Abschluß Beweise sichern, indem man zum Beispiel Zeugen anspricht und um deren Bereitschaft zur Aussage bittet. Im Zweifel die Polizei rufen; an Ort und Stelle ist auch der Angreifer eher bereit, die Wahrheit zu sagen als möglicherweise Tage oder Wochen später, wenn ihm eingefallen ist, daß man ja mal auf Schmerzensgeld klagen könnte. Mit der Polizei höflich umgehen, so wie wir es im Dojo und auf Lehrgängen untereinander auch tun.

b. im Strafverfahren
Nicht erschrecken, wenn man eine Anklage von der Staatsanwaltschaft wegen Körperverletzung bekommt. Polizei und Staatsanwaltschaft sind zum einen überlastet und haben zum anderen schon so oft Märchen von Notwehr und sich selbst verletzenden Opfern erzählt bekommen, daß die Klärung oft dem Gericht überlassen bleibt. Ich selbst habe im Rahmen strafiichterlicher Tätigkeit den Schriftsatz eines Verteidigers lesen müssen, der sich nicht entblödete, vorzutragen, das Opfer sei seinem Mandanten gegen die ausgestreckte Faust gelaufen. Faule Ausreden dieser Art und Notwehrlügengeschichten sind in Körperverletzungsverfahren fast so sicher wie das Amen in der Kirche. Man darf sich also nicht wundern, wenn Polizei, Staatsanwalt und Richter beim Thema Notwehr am Anfang etwas reserviert sein können - mit Voreingenommenheit hat das nichts zu tun, das ist einfach Berufserfahrung. Dem Richter deswegen zu unterstellen, er sei parteiisch, wolle einen sowieso in die Pfanne hauen und sich im übrigen möglichst wenig Arbeit mit einer Verurteilung machen ist beleidigend, grundfalsch und zudem sehr ungeschickt. Besser höflich, freundlich, selbstbewußt, geduldig und korrekt bleiben und die Sache aufklären. Man sollte versuchen, zu erklären, warum man sich gerade so und nicht anders verteidigt hat. Wenn man Angst hatte und kopflos einfach nur irgendwas gemacht hat, ohne sich dabei irgendwelche Gedanken über das mildeste Mittel gemacht zu haben, sollte man dies ruhig sagen.
Als Budosportler kann man ziemlich getrost davon ausgehen, daß Richter und Staatsanwalt keine Budoka sind und in manchen Fällen wohl auch die in der Öffentlichkeit verbreiteten, völlig verzerrten Vorstellungen von den phantastischen Fähigkeiten und der Brutalität eines Karatekas haben. Hier muß man Geduld üben, höflich bleiben und den Beteiligten klarmachen, daß man keine unfehlbare Kampfinaschine ist und der Budosport mit Steine zerkloppen und Leute verprügeln allenfalls am Rande zu tun hat. Daß die Meßlatte bei der Erforderlichkeit im Rahmen der Notwehr bei einem Budoka höher angelegt werden dürfte als bei anderen versteht sich von selbst. Im übrigen gilt ganz allgemein: Immer bei der Wahrheit bleiben! Und das von Anfang an. "Schlaue Geschichten", wenn man ein schlechtes Gewissen hat, weil man vermeintlich oder real des Guten zuviel getan hatte, werden zum einen durchschaut und zum anderen mit Recht übel genommen.
Im Grunde ist es so: Wenn wir uns an unsere Budo-Ethik halten, wie wir sie beim Training mitbekommen, dann kann nicht viel schiefgehen. Und wir sollten unser Training ernstnehmen.



Der Autor, 1. Dan Karate-Do, ist als Richter am Amtsgericht tätig