Wing Chun - alte Besen kehren gut
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In dem Thread über Ted Wong wurde gesagt (von Pai Lee), Wing Chun sei ein alter Hut, ...sinngemäß (!). Wir hatten vor zwei oder drei Jahren im Netz bereits eine ähnliche Diskussion. Frank behauptete damals auch, Wing Chun sei veraltet. Ich wollte die Diskussion einfach nochmal (hoffentlich mit neuen Erkenntnissen) in diesem Thread starten. Here goes ...
Wing Chun ist keineswegs veraltet! Man lernt den Körper optimal einzusetzen und kann so in jeder Position schlagen und treten. Im Chi Sau lernt man (neben anderen Dingen) die Aktionen des Kontrahenten im Ansatz zu fühlen, um dann selbst einen Angriff durchzuführen oder den gegnerischen Angriff zu kontern. Wing Chun bereitet aufs realistische Kämpfen vor.
Es gibt im Wing Chun keinen Bodenkampf. Weshalb sollte es? Die MMA-Events im TV finden nicht unter Straßenbedingungen statt. Die Kämpfe haben einen sportlichen Rahmen. Es gibt Regeln, einen Schiedsrichter und die Teilnehmer können sich auf ihre Gegner vorbereiten. Beide Kämpfer sind hochtrainiert und Spitzenathleten. Es ist ein Kampf, der nur zwischen diesen beiden Leuten stattfindet. All das gibt es auf der Straße nicht!!! Bodenkampf, wie er bei den MMA-Events praktiziert wird, wäre auf der Straße sogar gefährlich. Die Taktik der Gracies (so genial wie deren Stil ist), ist auf der Straße IMHO unbrauchbar. Man kann den anderen nicht belauern, ihn dann zu Boden reißen und mehrere Minuten auf die Chance eines Armhebels oder Chokes zu warten. Wenn man selbst den Bodenkampf sucht, nimmt man sich die Möglichkeit zu flüchten und wegzurennen. Ich kenne keinen, der auf der Straße zu Boden musste, wenn er es nicht selbst wollte. Handelt es sich nicht nur um ein harmloses Gerangel, ist der erste solide Treffer kampfentscheidend - entweder man setzt nach oder verläßt das Schlachtfeld. That's it ...
Bodenkampf hat in den letzten Jahren einen Hype erfahren, weshalb sich viele Wing Chun Stilisten genötigt fühlten, Bodentechniken in das Wing Chun zu integrieren, was zum Scheitern verurteilt ist. Judo, Sambo, BJJ, ... kann man nach Belieben mixen. Wing Chun kann man eben nur mit Wing Chun vermischen!
Um mal über den Tellerrand zu schauen, habe ich an zwei Lameco-Seminaren teilgenommen. Ich habe vor allem nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten (Wong Ving Tsun vs. Lameco) gesucht. Gemeinsamkeiten sind mir viele aufgefallen. Angefangen bei der Schrittarbeit, den Kampfwinkeln, der Direktheit und so weiter. Unterschiede entdeckte ich hauptsächlich bei dem Aufbau des Unterrichts. Im Wing Chun beginnt es eben mit Siu Nim Tau, Dan Chi, Chi Sau, Cham Kiu ... Im Lameco werden verschiedene Partnerübungen trainiert, die Timing- und Distanzgefühl schulen sollen. Das Lameco ist ein sehr simples, schnörkelloses System, das immer den Kampf vor Augen hat. Nicht anders ist es im Wing Chun. Das System protzt nicht mit einer Vielzahl von schönen Techniken und einem wundersamen Stilmix. Es basiert auf strengen Prinzipien und Konzepten, die sich der Schüler aneignen muss, um das Wing Chun für sich nutzen zu können. Es ist auch kein System, das man in wenigen Monaten erlernen kann. Es braucht mehr als ein paar Lehrgänge und unsinniger Geheimtechniken. Schließlich geht es um eine Körperschulung. Man kämpft nicht mit den Fäusten, den Knien oder den Füßen. "You use you!", wie Clive Potter, ein Wong-Schüler aus England mal gesagt hat.
Die Prinzipien des Wing Chun sind noch immer gültig, obgleich das System mehrere hundert Jahre alt ist. Es geht darum den Gegner forwährend anzugreifen. Unter Zuhilfenahme der einzigartigen Körperstruktur (Position der Ellbogen und natürlich der Hüfte!!!) wird der Gegner mit den einfachsten, direktesten und effektivsten Mitteln angegriffen, die zur Verfügung stehen. Dabei ist es auch gleichgültig, wie der andere angreift. "It is far better to allow your opponent to guide you during the fight, to show you how to hit him." (Wong Shun Leung, aus "The Combat Philosophy of Wong Shun Leung" von David Peterson).
Als Wing Chunler habe ich mich gefreut, als ich den Kampf "Belford vs. Silva" gesehen habe. Belford macht perfektes "facing" und "chasing". Er bedrängt seinen Gegner fortwährend, gibt ihm keine Möglichkeit zum Konter. Einfach und genial! Viele Wing Chunler können sich davon eine Scheibe abschneiden.
Wing Chun bedarf auch einer hohen Sportlichkeit, was von vielen leider bestritten oder einfach mißachtet wird. Ausdauertraining (z.B. Seilspringen, Laufen ...) und ein sinnvolles Krafttraining gehören dazu. Ohne einer hohen körperlichen Fitness und einer gewissen mentalen Stärke wird man nicht mal das Training überstehen, das notwendig ist, um Wing Chun zu erlernen.
Nicht jeder ist als Kämpfer geboren. Die wenigsten, die Wing Chun üben, werden auch erfolgreich kämpfen können. Echte Meister sind selten und Ausnahmeerscheinungen. Die Inflation der "Sifus" hat dazu geführt, dass das Wing Chun fast zur Lächerlichkeit verkommen ist. Ein "Yip Man"-Bild an der Wand und eine auf Hochglanz polierte Holzpuppe sind ein Teil einer teueren Verpackung, deren Inhalt zum Kämpfen unbrauchbar ist.
Von Meisterschaft bin ich weit entfernt. Im Training komme ich zwar mit vielen einigermaßen klar. Ein Kämpfer bin ich leider nicht, ...eher ein Flüchter. Naja, man kann nicht alles können. Who cares!!!
Bernd.