AAR zum Senshido Seminarwochenende mit Rich Dimitri in Landshut, 1. und 2. Oktober 2011
Vorbemerkung:
Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich zu diesem Event wirklich einen Seminarbericht verfassen sollte. Meine Befürchtung war, dass ich aufgrund der hohen Informationsfülle wichtige Details auslassen würde, bzw., mich einfach gar nicht an alles erinnern würde können.
Ganz offensichtlich habe ich mich aber nun doch dazu entschlossen, etwas zu Papier zu bringen. Und hier sind wir schon an einem wesentlichen Punkt des Seminars angekommen. Eines von Richs Lieblingsbeispielen, welches er oft bemüht hat, war eine Szene aus einem Bruce Lee Film (Entert he Dragon), wo Lee einem Schüler erklärt, dass, wenn man jemanden den Mond mit dem Finger zeigt, dieser sich eher auf den Finger als auf das wesentliche, den Mond, konzentriert und damit leider das wichtigste verpasst (darüber hate er auch in seinem blog geposted: The Senshido International Team Blog: Fuck the box think outside your perceived reality! )
Ich konzentriere mich hier daher eher auf einige Gedanken und Prinzipien, die das Seminar ausgemacht haben und dann durch Details wie z.B. Drills transportiert wurden, als auf die Details selbst.
Zur Person:
Rich Dimitri ist ein kanadischer Experte für realistische Selbstverteidigung und Begründer des Senshido-Systems. Informationen über ihn und sein System gibt es hier:
Welcome to Senshido
www.Senshido.com • Index page
The Senshido International Team Blog
Zur Sache:
Das Seminarwochenende gliederte sich in zwei Teile. Teil 1 am Samstag beschäftigte sich mit den „Senshido Fundamentals of Self-Defense, also dem Fundament des Senshido-Systems. In Teil 2 am Sonntag ging es um den Shredder, ein spezielles Tool für den Kampf in der (extremen) Nahdistanz.
Zum Seminar waren rund 25 interessierte aus allen Teilen der Republik und sogar aus dem benachbarten Ausland nach Landshut gekommen. Bemerkenswert war, dass Rich von insgesamt 5 seiner europäischen Instruktoren unterstützt wurde, so dass auf 4 Teilnehmer annähernd ein Trainer kam, was dem Lernerfolg natürlich enorm zu gute kam.
Tag 1
Tag 1 beschäftigte sich im wesentlichen mit den „Senshido Fundamentals of Self-Defense, dem Unterbau des Senshido-Systems.
Rich machte hier von Anfang klar, worum es hierbei gehen würde: „This here is not about fighting or punching or kicking or hitting pads. If you came here and expected stuff like that, I will gladly give you your money back, no questions asked. What this here is about, is not-fighting, meaning going home not having to fight at all - if possible.” Trotz dieser klaren Ansage blieben uns alle Teilnehmer erhalten, keiner wollte sein Geld zurück.
Los ging es mit Drills in Form von kleinen Rollenspielen zu einem Konzept von Rich, welches genau zur obigen Ankündigung passte. Er hatte klargestellt, dass nicht jeder, der uns im Alltag feindselig gegenübertritt, per se ein bad guy sein muss. Vielmehr spreche die Lebenswirklichkeit eher dafür, dass wir einem good guy begegnen, der einen schlechten Tag hat (good guy having a bad day). In diesem Fall ist eine körperliche Auseinandersetzung durchaus vermeidbar, wenn man sich nicht auf Ego-Spielchen einlässt und dem Gegenüber die Möglichkeit zu einem ehrenvollen Abgang lässt. Der dazugehörige Drill sah Mini-Szenarios vor, wo der Verteidiger entscheiden musste, ob er einen bad guy oder einen good guy having a bad day vor sich hatte, also ob sich die Situation noch entschärfen lassen würde oder ob physisches vorgehen unvermeidbar war. Nach dieser Einschätzung richtete sich dann das entsprechende Handeln des Verteidigers.
Dieser Drill wurde dann immer weiter ausgebaut, bis man später dann zwei Gegner vor sich hatte, von denen einer mit einem Trainingsmeser bewaffnet war und man sich um diese beiden „kümmern“ musste, während man eine dritte Partei im Auge zu behalten hatte - was wiederum zu einigen sehr coolen Wahrnehmungsübungen und Drills zum periphären Sehen überleitete. Klasse Didaktik, der berühmte „roten Faden“ war definitiv vorhanden und klar erkennbar.
An diesem Tag hat Rich auch für sehr viel theoretischen Unterbau gesorgt und an einigen Stellen zwischen den Drills beispielsweise wiederholt dafür gesorgt, dass man über sich selbst und seine Einstellung zu bestimmten Situationen nachdenken sollte, da eine Vielzahl von vermeidbaren Auseinandersetzungen lediglich auf Ego-Problemen und falschverstandenem Rollenverständnis beruhen, insbesondere bei Männern. Seine Herangehensweise an diesen Themenbereich hat noch einmal unterstrichen, dass er sich nicht - wie so oft bei anderen Anbietern leider der Fall - auf vorgefertigte und einfache Alibi-Lösungen beschränkt, sondern Dinge kritisch hinterfragt und auch seine Seminarteilnehmer selbst zum Nachdenken animieren möchte - selbst dann, wenn dies zu weiteren Fragen führen sollte und es insgesamt mehr „Arbeit“ für ihn bedeutet.
Gegen Nachmittag dieses Tages ging es dann schon deutlich in Richtung Shredder, um auf den kommenden Seminartag überzuleiten.
Tag 2
Der zweite Tag hatte den Shredder auf der Agenda. Selbiger ist ein sog. extreme close quarter combat tool und eine Spezialität des Senshido. Ich kann und möchte hier aber gar nicht großartig auf dieses Konzept und die dazugehörigen Trainingsdrills eingehen, dazu gibt es schon allerhand Material aus verschiedenen Quellen, die es beschreiben. Weitere Informationen gibt es z.B. hier:
senshido_shredder
www.Senshido.com • View topic - An Analytical Look at the Shredder
oder man sucht einfach mal nach dimitri und shredder bei youtube
Mein persönlicher Eindruck: Der Shredder ist ein beeindruckendes Tool. Wenn man ihn mal am eigenen Leib erfahren hat, ausgeführt von jemandem, der damit Erfahrung hat, lernt man ihn rasch zu schätzen. Ich für meinen Teil habe bisher kaum vergleichbares gesehen, was es einem ermöglicht, seinen Gegenüber so schnell und zuverlässig runterzubringen, ohne, dass dieser eine echte Chance zur Gegenwehr hätte und was dabei auch noch wirklich unabhängig von Faktoren wie Statur, Geschlecht oder Körperkraft ist.
Man kann es sich ungefähr so vorstellen, als ob der Kopf/das Gesicht in einer sich bewegenden Bärenfalle steckt, aus der man nicht rauskommt. Die eigenen Hände gehen dabei dann irgendwann einfach automatisch nur noch panisch vors Gesicht, und versuchen, die Schmerzquelle zu beseitigen, was aber nicht funktioniert und dann wird man auch schon runtergebracht.
Persönliches Gesamtfazit:
Die Veranstaltung war insgesamt einfach nur Klasse. Ich hatte schon im Vorfeld ziemlich hohe Erwartungen, diese hat Rich aber sogar noch übertroffen.
Ich lese seit ewigen Zeiten in seinem Forum mit und habe insbesondere seine Ausführungen zu Themen, die mit Vorkampf und Deeskalation zu tun haben, immer für herausragend gehalten. Er ist einer der ganz wenigen in der Selbstverteidigungs-Industrie, denen ich abnehme, dass es ihm wirklich darum geht, nicht-kämpfen-müssen als legitime und erstrebenswerte Lösung zu vermitteln und auch dementsprechend zu trainieren - selbst, wenn dies mehr Arbeit und weniger bequeme Problemlösungen bedeuten.
Nehmen wir das oben angesprochene Konzept des good guy having a bad day: es wäre ungleich leichter gewesen, es wie der Grossteil in der SV-Industrie zu machen und dieses Phänomen total auszublenden und den Leuten die - oftmals gewünschten - „einfachen Lösungen“ zu verkaufen, wie eben, dass man selbst der Gute ist, folglich der andere der Böse und wenn der einem so gegenübertritt, darf er sich nicht wundern, wenn er umgekloppt wird. Stattdessen wurden in diesem Zusammenhang auch mal so Dinge wie die ethische, moralische und rechtliche Komponente des eigenen Handels angesprochen und der Multiplikatoreneffekt (ripple effect), den das eigene Handeln auch auf die Umwelt der Beteiligten haben kann, sowie, dass selbst eine ethisch, moralisch und legal gerechtfertigte Handlung einem nachhaltig das Leben versauen kann und einen bis zum Ende desselben verfolgen kann, wenn man Pech hat.
Das mag sich für den ein oder anderen jetzt ziemlich tiefgründig für diesen Kontext anhören. Es mag auch über den Horizont vieler Leute und deren Verständnis von Selbstverteidigung hinausgehen. Das macht aber nichts. Es gibt sicher genügend andere Anbieter, die andere Lösungen propagieren. Jeder nach seinem Geschmack.
Es wird aber auch durchaus Leute geben, bei denen diese angerissenen Punkte einen „Nerv“ getroffen haben und deren Interesse geweckt wurde. Denen kann ich nur sagen, dass sich der Weg zu Rich auf jeden Fall lohnt, wenn man gewillt ist, eher „outside the box“ zu denken. Dann wird man bei ihm und seinen Leuten sicher viel mitnehmen und Leute vorfinden, die sich mit ziviler Selbstverteidigung und den damit einhergehenden Risiken und Problemen auf hohem Niveau beschäftigen und auch vor der damit verbundenen Denkarbeit nicht zurückschrecken.
Ich für meinen Teil habe übrigens noch am Seminarort Kontakt mit dem mir nächstgelegenen Senshido-Instructor aufgenommen und werde dort sicher mal vorbeischauen…