Titel: Karate wie es G. Funakoshi sah
Beitrag von: Gibukai am November 07, 2007, 03:23:00
Hallo,
ich glaube, daß es einmal ganz gut wäre, zu umreißen, was G. Funakoshi (1868-1957) unter „Karate“ verstanden hat und was auch nicht. Warum halte ich das für eine gute Idee? Weil sich heute viele Leute auf eben diesen Mann beziehen, zumindest verbal...
Für G. Funakoshi hatte Karate einen dreifachen Wert, nämlich einen Wert als Leibeserziehung (Taiiku 体育), einen Wert als Kunst des Selbstschutzes (Goshin-Jutsu 護身術) sowie einen Wert als geistige Übung (Seishin-Shūyō 精神修養). Dies betonte er seit 1922 in seinen Werken eindringlich. Diese „Dreifaltigkeit“ macht sein Karate aus.
Betrachten wir die einzelnen Komponenten etwas ausführlicher.
Der japanische Begriff für „Leibeserziehung“, Taiiku, setzt sich aus den Schriftzeichen für „Körper“ (Tai) und „großziehen“, „erziehen“ (Iku) zusammen. Er ist als Begriff bewußt gewählt worden und sollte nicht umgedeutet werden, etwa in Richtung „Sport“, doch dazu später. G. Funakoshi erklärt den Begriff so: Alle fünf Teile des Körpers werden wohlproportioniert nach rechts und links, oben und unten bewegt. So wird der Körper trainiert. Er hebt außerdem hervor, daß eben diese Wohlproportioniertheit des Trainings eines Karateka ein Vorteil gegenüber Vertretern anderer Disziplinen, wie etwa dem Ruderer oder dem Springer, darstellt. Wahrscheinlich wird das niemand abstreiten.
Er meint zusätzlich, daß die Entwicklung von Sehnen und Knochen eine besondere Stärke des Karate gegenüber den Bewegungen anderer Kriegskünste (Bugei) sei. Als Grund nennt er das Intensivieren der Kraft durch die Karate-Übung. Dann können theoretisch Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen trainieren, ohne daß jemand unter- oder überfordert wird. Vielleicht sind auch diese beiden Punkte heute noch zugegen.
Als weiteren positiven Punkt, der aus der Leibeserziehung durch das Karate-Training resultiert, nennt G. Funakoshi die Gewährleistung eines gesunden, langen Lebens. Mehr noch, selbst im fortgeschrittenen Alter können sich Karate-Adepten mühelos mit mehreren Leuten messen. Nun, ich bin mir nicht so sicher, ob jeder neuzeitliche Karateka diese Dimension kennt.
Wie dem auch sei, in seinen Beschreibungen zum Wert des Karate als Leibesübung finden sich keine Spuren des Wortes „Sport“, was manch einen grämen mag. Auch ein Hinweis auf den „Wettkampf“ sucht man da vergebens. Nun mag sich die ein oder andere Stimme erheben, daß Sport und Leibeserziehung ein und dasselbe sein und G. Funakoshi daher genauso gut auch den Begriff „Sport“ verwenden hätte können oder daß wir ihn heute durchaus gebrauchen können, um seine Lehre, sein Karate zu beschreiben. Dummerweise ist das absolut unzulässig!
Schon 1931 schrieb S. Gima (1896-1989), der unter anderem bei G. Funakoshi lernte, daß „das Übel dieses Sports von außerhalb angezogen wird und in der Welt der Erziehung eine große Sensation verursacht“ und daß sein „Stählen von Herz und Körper nicht wie das im japanischen Budō ist“. Ich hoffe, es ist klar, was das bedeutet – Sport und Leibeserziehung waren für G. Funakoshi und seine Anhänger nicht identisch. Sport und Budō sind verschiedenartig. Punkt.
Was für einen Grund gab es aber, dieses Element des Sportes mit dem Namen G. Funakoshis zu vermischen? Hierzu äußerte sich z.B. T. Asai (1935-2006), ein Schüler von M. Nakayama (1913-1987), in einem 1999 durchgeführten Interview, das ich E. Fujiwara verdanke, folgendermaßen:
„Der Grund, daß wir noch immer dieses Sport-Karate machen ist das Verbreiten des Karate. Würden wir nur das echte Bu-Jutsu machen, wäre das zu gefährlich. Wir vereinfachen die Kampfkunst und stellen Regeln auf, so daß sie jeder in relativer Sicherheit ausüben und genießen kann. Der Sportaspekt unterscheidet sich jedoch vollständig von der echten Kampfkunst. Und tatsächlich wären viele der im Wettkampf gebrauchten Techniken in einem richtigen Kampf noch nicht einmal wirksam. Das im Sport enthaltene Denken und der im Sport enthaltene Geist unterscheiden sich sehr von denen, die im echten Bu-Jutsu verwendet werden. Zwischen Bu-Jutsu und Sport-Karate ist der größte Unterschied der Geist. Kommt es zu einer Situation auf Leben und Tod, werden wir wahrlich sehen, woraus wir tatsächlich gemacht sind. Sport ist für die Entwicklung von Fertigkeiten da, einen Preis zu gewinnen – die Kampfkunst für die Ausbildung von Fertigkeiten zum Überleben.“
Wenn also die Verbreitung der Aufhänger ist, dann könnte das Sport-Karate doch abgeschafft werden. Ich meine, verbreitet ist Karate doch mittlerweile zur Genüge... Hängen die Vertreter des Sport-Karate an ihrem Sport (was ihr gutes Recht ist), dann sollten sie es doch aber bitte schön auch als solchen kennzeichnen, d.h. „Sport-Karate“. Dies ist allerdings genauso unwahrscheinlich, wie das unverhohlene Bekenntnis, daß dieses Sport-Karate nichts mit dem Gedankengut G. Funakoshis zu tun hat.
Zusammengefaßt sieht der Militärarzt Kapitänsleutnant Y. Hayashi beim als Leibesübung betriebenen Karate positive Wirkungen auf den Blutkreislauf, die Atmung, den Stoffwechsel und natürlich den Körper als ganzes.
Zurück zu dem, was G. Funakoshi lehrte. „Goshin-Jutsu“ meint die Kunst des Selbstschutzes (und „Selbstschutz“ ist im Vergleich zu „Selbstverteidigung“ etymologisch und inhaltlich die bessere Wahl).
Anders als heute manchmal dargestellt, ging es ihm selbstverständlich darum, kampfstarke Menschen auszubilden – und zwar mit seinem Karate. Er war sicher kein Pazifist, dem es darum ging, die Gewalt aus der Welt zu schaffen. Er folgte einer alten Doktrin, wonach man „an welchem Tage, zu welcher Zeit, von welchem Ort der Wind auch geweht kommt, die Bereitschaft haben muß, daß er nur nicht eindringt“. Sein Karate als Selbstschutz beschreibt er 1935 u.a. so:
„Nun, um sich selbst zu schützen, um sich gegen den Feind zu verteidigen, muß man mit der schwächsten Kraft den starken Feind stechen können und eine Kampfkunst (Bu-Jutsu) wählen, die eine große Wirkung hat.“
„Karate hat auch Wurftechniken [Nage-Waza], aber hauptsächlich sind da Schläge [Uchi], Tritte [Keri], Stöße [Tsuki] sowie verdrehende Fertigkeiten [Gyaku-Te]. Diese Aktionen sind außerordentlich flink und ein Laie fängt sie mit den Augen mehr oder weniger nicht ein.“
Er geht sogar soweit, daß er Kindern und Frauen zugesteht, sich mit seinem Karate effektiv zur Wehr setzen zu können. Bedingung dafür ist natürlich ein ordentliches Training. Ist dies in den heutigen Karate-Gruppen ebenfalls so?
(Als kleine, aber nicht unwesentliche Randnotiz, G. Funakoshi nutzt den Begriff „Feind“, nicht aber das Wort „Gegner“, schon gar nicht „Partner“, um seinen Standpunkt klar zu machen.)
Kapitänsleutnant Y. Hayashi betrachtete Karate 1922 vom Standpunkt der Leibeserziehung und dem der kämpferischen Fertigkeit (Tōgi) aus und befindet sich damit auf einer Linie mit G. Funakoshi. Er weist darauf hin, daß Karate durchaus auch nur dem Zwecke der Leibeserziehung dienen kann. Im zweiten Fall erachtet er Karate allerdings als rein kämpferische Fertigkeit, denn: „In der Kunst des Karate bekämpft man die feindlichen, angreifenden Aktionen des Schlagens, Tretens, Stoßens usw. und noch dazu stößt man spontan in die Leere des Feindes [d.h. in seine Schwachstelle]...“ Zumal daher „diese Techniken adaptiert werden können“, handelt es sich von dieser Warte aus um eine „rein kämpferische Fertigkeit“.
G. Funakoshi sah das genauso, auch wenn das dem ein oder anderem nicht so wirklich gefallen mag. Er war stolz darauf, daß Karate von militärischen Institutionen, wie der Toyama-Schule für Militär, als kämpferische Fertigkeit anerkannt wurde; er bezeichnet es als „Ehre“. So befürwortete er 1929 gleichermaßen, daß sein Karate eine Bereicherung für den militärischen Nahkampf innerhalb der japanischen Armee darstellt. Was das bedeutet, sollte doch verständlich sein, oder? Sein Karate konnte eine kämpferische Wirksamkeit zur Schau stellen, die militärische Kreise bewog, sich mit dieser Kampfkunst zu beschäftigen.
Wenn heutzutage Lehrgänge für Karateka zum Thema „Selbstverteidigung“ angeboten werden, ist das vor diesem Hintergrund doch erschütternd! Zumindest für G. Funakoshi gehörte das zu der „Dreifaltigkeit“ des Karate dazu...
Y. Hayashi kehrte noch folgende Beobachtung bezüglich des Karate als Leibeserziehung und als kämpferische Fertigkeit hervor, die ziemlich bedeutsam ist: Vom Standpunkt des Taiiku aus betrachtet, ist der Grad der erforderlichen Nervenstärke bzw. der mentalen Stärke gering, aber der auf den Pulsschlag, den Blutdruck und die Atmung erreichte Einfluß ist groß. Im Unterschied dazu ist der Grad der erforderlichen Nervenstärke bei der kämpferischen Fertigkeit außerordentlich groß und der auf den Pulsschlag, den Blutdruck und die Atmung erreichte Einfluß ist mittleren Grades. Darüber sollte einmal nachgedacht werden. Einige Leute verwechseln nämlich ein körperliches Training bis zum Umfallen mit „kriegerischer Vorbereitung“, unfähig zu erkennen, daß es nichts anderes als eine Hardcore-Aerobic darstellt.
Jedenfalls führt uns der letzte Hinweis zum dritten Wert, den G. Funakoshi seinem Karate zuschreibt, der geistigen Übung. Er erläutert, daß es wohl keine Kampfkunst (Bu-Jutsu) gäbe, die nicht zur geistigen Übung bzw. Kultivierung (Seishin-Shūyō) beitragen würde, wenn man auf deren wahre Absicht Rücksicht nimmt. Und die Kampfkunst Karate ist hier selbstverständlich keine Ausnahme. Für ihn zählt dazu z.B. die schleichende Ausbildung von Mut, Bescheidenheit und Selbstbeherrschung. Diese Punkte sollten, wenngleich nicht ausschließlich, vor dem Hintergrund einer kämpferischen Auseinandersetzung betrachtet werden. Trotzdem G. Funakoshi darauf hinweist, es sogar eingehend erklärt, wird es doch von philosophisch verklärten Personen immer wieder anderweitig gedeutet. Zusätzlich nannte Kapitänsleutnant Y. Hayashi ausgebildete Eigenschaften, wie Aufmerksamkeit, Entschlossenheit, Gelassenheit und dergleichen, Effekte, die auf dem Training des Karate als kämpferische Fertigkeit beruhen.
Diese drei Werte zusammen bildeten G. Funakoshis Karate – ein qualitativ recht anspruchsvolles Paket, wie ich finde. Dennoch schrieb er, daß es noch immer Defizite in seinem Karate gibt, die im Laufe der Zeit behoben werden müssen. Aber er ging hierbei vom damaligen Entwicklungsstand aus. Heute gibt es gleichfalls Stimmen, die von Weiterentwicklung faseln. In diesem Fall meinen diese aber das, was sie gegenwärtig als „Karate“ erachten. Ich persönlich sehe in vielen Fällen nicht, daß dies auch nur annähernd dem nahe kommt, was G. Funakoshi unter Karate verstand und was ich gerade eben angerissen habe.
Wenn sich jemand mit einer Handvoll Federn konfrontiert sieht, hält er diese doch auch nicht für einen Vogel (mal vorausgesetzt, es handelt sich nicht um ein allzu schlichtes Gemüht). Gut, die Federn stammen ursprünglich von einem Vogel und sie erinnern einen auch noch an diesen, aber sie stellen nicht den gesamten Organismus dieses Flugtiers dar. Also wird auch kaum jemand auf die Idee kommen, diesem Federhaufen das Zwitschern oder das Fliegen beizubringen. Genau das versuchen aber einige Zeitgenossen mit dem, was sie als Karate kennen. Sie sind bestrebt, diesem Überbleibsel dessen, was G. Funakoshi einst zu lehren versuchte, durch das Hinzufügen bald dieser Neuerung, bald jener Idee einen Wertzuwachs beizubringen. Wenn ich eine Flöte in einen Haufen Federn werfe, ist das noch immer kein zwitschernder Vogel.
Allerdings schert das gewisse Mitmenschen wenig. Wie ich erst unlängst wieder einem Karate-Blättchen entnehmen durfte, wird halt immer wieder die „Weiterentwicklung“ von G. Funakoshis Lehre beschworen. Selbstverständlich ist der Begriff dabei positiv besetzt, worauf auch gepocht wird.
Um dies verständlicher zu machen folgende zwei Punkte:
(1) Wer G. Funakoshis Veröffentlichungen, seinen Qualitätsanspruch an sein Karate kennt, weiß um den Umfang und den Tiefgang seines Karate.
(2) Nur wer G. Funakoshis Karate vollständig (!) verinnerlicht hat, darf sich anmaßen, von der „Weiterentwicklung“ dieser Lehre zu sprechen.
Aus diesem Blickwinkel ist zumindest mir klar, daß es schwierig werden dürfte, sein Karate zuerst zu erfassen und gegebenenfalls auch noch auszubauen...
Grüße,
Henning Wittwer