Hallo,
die Frage ist berechtigt und wichtig. In der Karate-Welt gibt es tatsächlich Personen, die „‘japanisches‘ Karate kritisch“ sehen. Dazu gibt es in der Karate-Welt Personen, die „‘okinawanisches‘ Karate kritisch“ sehen, sowie Personen, die „‘chinesische‘ Kampfkunst kritisch“ sehen. Und es gibt Personen, die jeweils zwei dieser geographischen Eingrenzungen kritisch sehen. Die Ursachen für derartige „kritische“ Betrachtungen sind meist pekuniärer und/oder ideologischer Natur; auf jeden Fall sind sie kleingeistig und oft heuchlerisch.
Warum sind sie kleingeistig und oft heuchlerisch? Kampfkunst in Ryūkyū wurde eigentlich schon immer (also wirklich seit der Besiedlung der Inselkette) von den japanischen Hauptinseln beeinflusst. In der jüngeren Vergangenheit gibt es ganz konkrete Beispiele für japanische Ryūha, die direkten und indirekten Einfluss auf bestimmte okinawanische Kampfkünstler nahmen. Beispielsweise lernte der halblegendäre S. Matsumura – den heute viele „ur-okinawanische“ Schulrichtungen als ihren Ahn hochhalten (bis hin zu einem Monument) – Ko Jigen-Ryū aus der japanischen Präfektur Satsuma. Dieser japanische Einfluss fand lange vor den 1920er Jahren noch zur Zeit des Königreichs Ryūkyū statt. Alle frühen Lehrschriften über „Karate“ wurden in japanischer Sprache verfasst (u. a. von S. Matsumura). Die frühsten bekannten Lehrgedichte des „Karate“ wurden in japanischer Sprache und japanischem Stil komponiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden so gut wie alle in den 1920er und 1930er Jahren auf den japanischen Hauptinseln etablierten Karate-Strukturen von Karate-Lehrern, die in der Präfektur Okinawa lebten, übernommen und teilweise noch verstärkt. Das geht bei den Trainingsanzügen und Graduierungen los, weiter über „Dōjō“-Kultur und Unterrichtsweisen bis hin zu technischen Inhalten und Versportlichung. Die einzige echte Ausnahme stellen neuartige Kata-Namen dar, die G. Funakoshi (1868–1957) seit den 1930er Jahren in Japan einführte. Aber das ist auch logisch, da die spezifische Übertragungslinie von G. Funakoshi mit G. Funakoshis Umzug nach Tōkyō Okinawa verlassen hat. D. h. andere Übertragungslinien in Okinawa hatten keinen Grund, diese Namen zu nutzen. Dennoch wurden auch in der Präfektur Okinawa japanische Kata-Namen geschaffen. Aus all diesen Gründen ist es heuchlerisch und kleingeistig, wenn in Okinawa beheimate Karate-Koryphäen sich „kritisch“ über „japanisches Karate“ äußern.
Das eigentliche Ziel der Kritik, wenn es wirklich um Karate geht, sind nicht andere Orte (Japan, Okinawa, China), sondern andere Übertragungslinien bzw. andere Lehrmeister, deren Kompetenz und/oder Trainingsinhalte infrage gestellt werden. Dabei geht es um Abgrenzung zu „den anderen“, wobei „die anderen“ selbstverständlich weniger kompetent sind und/oder über die schlechteren Trainingsinhalte verfügen. Auf diese Weise wird Mitgliedern der „eigenen“ Gruppe verständlich gemacht, wie gut es ihnen in der „eigenen“ Gruppe doch geht, und „den anderen“ sowie möglichen Interessenten wird verdeutlicht, wie super es doch für sie wäre, wenn sie der Gruppe des Kritisierenden angehörten. Selbstverständlich hat das meist etwas mit Geld zu tun (Mitgliedsbeiträge, Prüfungsgebühren usw.). Da wo die Kritik rein ideologischer Natur ist, kann tatsächlich Lokalpatriotismus (Heimat gegen Ausland) im Spiel sein. Aber meist geht es auch dabei eher um Übertragungslinien statt um Örtlichkeiten, weil Person A nicht so lange bei Lehrmeister X lernte wie Person B, oder Person C einer höheren gesellschaftlichen Klasse entstammte als Person D oder Person E einfach nur doof ist, oder …
Unterm Strich handelt es sich um nicht hinnehmbare Vereinfachungen historischer und/oder technischer Angelegenheiten. Wie in der großen Politik werden möglichst schlichte Botschaften genutzt, die einfach zu begreifen sind, um Werbung für die eigene Sache zu machen. Ein persönliches Beispiel: zwischen zwei Trainingseinheiten bei einem altehrwürdigen okinawanischen Lehrmeister beschwatzte mich ein abendländischer Schüler desselben, dass das Karate seines Lehrers viel näher an „der okinawanischen“ Quelle sei als mein Shōtōkan-Ryū – und das wäre doch für mich ein super Grund zu seiner Gruppe zu wechseln und so. Ich diskutierte als (höflicher) Gast natürlich nicht mit ihm rum und versuchte ihm nicht zu erklären, dass auch die Zusammensteller des Shōtōkan-Ryū gebürtige Okinawaner waren und zudem andere gebürtige Okinawaner übend und lehrend aktiv am Training im historischen Shōtōkan (1938–1945) teilnahmen. Ich nickte einfach nur ab. Für mich war sein alter Lehrer technisches Mittelmaß, so dass ich keinerlei Interesse verspürte, länger bei ihm zu trainieren. Da helfen auch keine geografischen Argumente …
Der „pseudomilitärische und typisch japanische Drill“, wie Du ihn nennst, ist tatsächlich preußischen Ursprungs, und er wurde zuerst in der Präfektur Okinawa in bestimmte Karate-Richtungen eingeführt. Danach gelangte diese Art von Training auf die japanischen Hauptinseln. Auch der Begriff Karate als „zivile Selbstverteidigungskunst“ ist aus historischer Sich wirklich ungünstig. Tatsächlich wurde er von heutigen Vertretern „ziviler Selbstverteidigungskunst“ (was auch immer sie im Einzelfall darunter verstehen) im Versuch über Karate gestülpt, eine „historische“ Rechtfertigung für ihre moderne Praxis zu erhalten. Das ist eine ähnliche Vereinfachung wie die Behauptung Karate sei Sport, womit dann Wettkämpfe gerechtfertigt werden.
Allgemein kann davon ausgegangen werden, dass Karate ohne den Schritt auf die japanischen Hauptinseln heute weitaus weniger verbreitet wäre. Ob das ein Schaden für Karate ist, kommt auf die Perspektive an. Ich selbst hätte wahrscheinlich ohne diesen Schritt nie etwas von Karate erfahren.
Schließlich möchte ich noch kurz auf die oft zu hörende/lesende Argumentation „aus der China-Hand wurde die leere Hand“ eingehen. Auch sie ist eine leider häufig instrumentalisierte Vereinfachung der „Anti-Japan-Karate-Rhetorik“. Wer sich ernsthaft mit der Geschichte auseinandersetzt, wird feststellen, dass sie kaum ein echtes, handfestes Argument darstellt, d. h. ob zuerst die Idee „chinesische Hand“ oder zuerst „leere Hand“ aufkam, lässt sich nicht (!) nachweisen. Abgesehen davon gab es mindestens neunundzwanzig (29) verschiedene Bezeichnungen, die für Kampfkunst aus Ryūkyū/Okinawa geschaffen und genutzt wurden …
Grüße,
Henning Wittwer