
Zitat von
Han Fei
Schäubles Aussage stellt eine Abwägung von zwei Rechtsgütern dar - dahingehend eigentlich schwer, diese falsch zu deuten -
Das sehe ich nicht so und finde, Du hast mit diesem Satz gerade demonstriert, wie leicht es ist, diese falsch zu verstehen, im Sinne, etwas rauszulesen, was gar nicht gesagt wurde.
Hier mal das Originalinterview im Tagesspiegel, unterstrichen sind die Passagen, die in den anderen Medien weitergegeben wurden:
Lässt eine Naturkatastrophe wie dieses Virus denn überhaupt so eine klassische politische Abwägung zu, oder tappen nicht in Wahrheit alle im Dunkeln?
Die Virologen wissen noch nicht genug darüber, wie sich das Virus verhält. Wie es sich ausbreitet, ob Menschen nach einer Infektion immun sind – es gibt noch viele offene Fragen. Wir alle wissen nicht, was unser Handeln für Auswirkungen hat, aber die Politik muss trotzdem handeln.
Auch die Wissenschaftler sagen: Die Politik muss entscheiden, wir können nur fachlichen Rat geben. Und es gibt eben nie eine absolut richtige Entscheidung. Es gibt nur die vernünftige Erörterung aller Gesichtspunkte, eingeschlossen die wissenschaftlichen Erkenntnisse, und dann muss entschieden werden.
Woher kommen die Kriterien dafür?
Man tastet sich da ran. Lieber vorsichtig - denn der Weg zurück würde fürchterlich. Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.
Man muss in Kauf nehmen, dass Menschen an Corona sterben?
Der Staat muss für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung gewährleisten. Aber Menschen werden weiter auch an Corona sterben. Sehen Sie: Mit allen Vorbelastungen und bei meinem Alter bin ich Hochrisikogruppe. Meine Angst ist aber begrenzt. Wir sterben alle. Und ich finde, Jüngere haben eigentlich ein viel größeres Risiko als ich. Mein natürliches Lebensende ist nämlich ein bisschen näher.
Also:
"Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig."
Stimmt, siehe finaler Rettungschuss. Oder einfach die Tatsache, dass wir eine Armee haben, die nicht mit Wattebällchen wirft oder eben der hier schon thematisierte Abtreibungsparagraph, oder das Notwehrrecht, dass es dem Einzelnen zugesteht, falls geboten, auch andere Rechtsgüter wie das Leben mit tödlicher Gewalt zu verteidigen.
Er sagt also etwas, was nicht falsch ist, allerdings sagt er nicht, was er jetzt konkret meint, das vor dem Schutz des Lebens nicht zurücktreten müsse.
Angesichts der aktuellen Lage wird da offensichtlich reininterpretiert dass er damit die Wirtschaft meint. Hat er aber nicht wirklich gesagt.
Er hat nur einen nicht falschen Satz gesagt, aus dem nicht zwingend folgt, dass man nun die Wirtschaft über den Schutz des Lebens stellen muss.
Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen.
Wieder: Vollkommen korrekt. Aber was heißt das nun konkret, in der vorliegenden Situation?
na der Interviewer hat nachgefragt:
Man muss in Kauf nehmen, dass Menschen an Corona sterben?
So, "in Kauf nehmen" bedeutet juristisch bedingter Vorsatz. Das setzt natürlich voraus, dass der vorsätzlich Handelnde eine Wahl hätte.
Also z.B. die Wahl zwischen einer florierenden Wirtschaft oder möglichst wenigen Toten.
Was antwortet Schäuble?
Der Staat muss für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung gewährleisten.
Der Satz scheint mir nicht mal nicht falsch zu sein (siehe wiederholte Anmerkungen Julian Brauns)
Da könnte man zumindest folgern, dass der Staat alles tun muss, um eine Belastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, denn dann ist obiges nicht mehr gewährleistet.
Schade, dass nicht weiter gefragt wurde:
"okay, abseits von der Gesundheitsversorgung, was bedeuten ihre Ausführungen bezüglich der fehlenden Absolutheit des Rechts auf Leben, bezüglich der Inkaufnahme von einer höheren Todesrate bei den Risikogruppen durch eine Reduzierung oder Aufhebung der Maßnahmen, mit dem Ziel, unsere Wirtschaft zu schützen?"
Dann kommt ein "aber" und als Einschränkung:
Aber Menschen werden weiter auch an Corona sterben.

Wow. Das ist für mich eine so aufwühlende Neuigkeit, wie die Mitteilung der Frau Merkel, dass es auch nach Aufhebung der Freiheitseinschränkungen Gesetze geben wird...:
Dabei hatte ich gedacht, ich dürfte endlich nackig durch die Straßen rennen, ohne Führerschein einen Leopard 2 rückwärts auf der linken Spur der Autobahn einparken und im Restaurant auf den Tisch kacken 
Menno.... 

Wieder offenbar nicht falsch. Menschen sterben; Dinge gehen kaputt, der Himmel ist blau, 2+2 ist 4; wenn es regnet, wird die Straße nass; alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei; kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter, oder es bleibt wie es ist....
Ja und auch bei bestmöglicher gesundheitlicher Versorgung und Beibehaltung des Lockdowns werden (zunächst) weiterhin Menschen an Corona sterben.
Fragt sich nur, wie viele, in welchem Zeitraum und wie lange.
Ich muss zugebeben, ich hab das Interview nur überflogen und mich vornehmlich auf die in den anderen Medien zitierten Passagen konzentriert:
Sagt der irgendwo konkret, dass man in Kauf nehmen müsse, dass mehr Menschen sterben um ein anderes Rechtsgut (welches konkret?) zu schützen?

Zitat von
Han Fei
und ist tatsächlich eine der ersten Aussagen von ihm, der ich beipflichte. Dies trifft nebenbei auch auf viele ältere Menschen zu, denen die Kontaktsperre - zumindest ihrer Aussage nach - jegliche Lebensqualität raubt. Das sind nunmal oft die Besuche von Verwandten. Hier einen Mittelweg aus Risikominimierung und Wahrung eines Teils der Lebensqualität zu finden, auch wenn es schwer sein mag, wäre wünchenswert.
Hab ich jetzt richtig verstanden: Du übersetzt "Menschenwürde" mit "Lebensqualität"? Weil es ja umgangssprachlich "unwürdige" oder vielleicht sogar "menschnunwürdige" Lebensumstände gibt?
Nehmen wir doch zum Test dieser Annahme eine Aussage des Bundesverfassungsgerichtes und ersetzen dort "Menschenwürde" durch "Lebensqualität".
Jeder besitzt Lebensqualität, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch "unwürdiges" Verhalten geht sie nicht verloren. Sie kann keinem Menschen genommen werden.
"Kann keinem Menschen genommen werden".... das schließt Raub ja mal aus. Das die Lebensqualität nicht von dem körperlichen oder geistigen Zustand abhängt, halte ich für ein Gerücht..
Weil wir grade dabei sind: was meinte denn das Bundesverfassungsgericht zum Verhältnis Menschenwürde und Recht auf Leben?:
Das menschliche Leben ist die vitale Basis der Menschenwürde als tragendem Konstitutionsprinzip und oberstem Verfassungswert
[...]
Dem Staat ist es im Hinblick auf dieses Verhältnis von Lebensrecht und Menschenwürde einerseits untersagt, durch eigene Maßnahmen unter Verstoß gegen das Verbot der Missachtung der menschlichen Würde in das Grundrecht auf Leben einzugreifen. Andererseits ist er auch gehalten, jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht gebietet es dem Staat und seinen Organen, sich schützend und fördernd vor das Leben jedes Einzelnen zu stellen; das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen An- und Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren
Was nicht verboten ist, ist erlaubt.
D.h. der Staat kann nur dann in das Grundrecht auf Leben eingreifen, wenn damit die Menschenwürde nicht missachtet wird.
Wann wird die Menschenwürde missachtet?
Wenn die Lebensqualität leidet, weil die Frisur scheiße ist, das Klopapier alle und die Hände faltig?
Wie schon weiter vorne angesprochen, bedeutet "Menschenwürde" in unserem Grundgesetz IMO was anderes.
Das Bundesverfassungsgericht meinte mal:
schließt es die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde vielmehr generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen (vgl. BVerfGE 27, 1 <6>); 45, 187 <228>; 96, 375 <399>). Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt (vgl. BVerfGE 30, 1 <26>; 87, 209 <228>; 96, 375 <399>), indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt (vgl. BVerfGE 30, 1 <26>; 109, 279 <312 f.>). Wann eine solche Behandlung vorliegt, ist im Einzelfall mit Blick auf die spezifische Situation zu konkretisieren, in der es zum Konfliktfall kommen kann (vgl. BVerfGE 30, 1 <25>; 109, 279 <311>).
Das klingt nun gar nicht so einfach.
Aber Schäuble sagt ja nix konkretes.
Er macht nur nicht falsche Aussagen, die in der Zusammenstellung den Eindruck erwecken könnten, er wolle das Recht auf Leben gegen was anderes abwägen.
Wenn man dann noch "Menschenwürde" mit "Lebensqualität" übersetzt, könnte der Eindruck entstehen, er hätte was gesagt, was er gar nicht gesagt hat.