Ich finde Deine Fragen sehr interessant und deshalb möchte ich Dir eine umfangreiche Antwort geben. Aus Erzählungen und eigenen Erfahrungen habe ich folgenden Schluß gezogen:
Ich denke, dass es früher nicht unbedingt eine Notwendigkeit gab, dem Stil einen Namen zu geben, dass es nicht technisch unterrichtet wurde, sondern mehr durch körperliche Erfahrung. Ich meine hier die Zeit, in der das südchinesische Boxen als Selbstverteidigung gegen Angriffe auf die eigene Dorfgemeinschaft praktiziert wurde. Es gab eine hohe Anforderung an die Funktionalität, und nicht an die "Form". Die Leute haben sich ausgetauscht und ihre eigenen Erfahrungen geteilt und sich gegenseitig unterstützt und das ist dann in konzentrierterer Form weitergegeben worden. Hier wurde die Form wichtiger.
Dann gab es die ersten Schulen und es wurden größere Gruppen unterrichtet und so entstanden Unterrichtskonzepte und eine Didaktik, die sehr Praxisbezogen war. Wenn jetzt das Geld verdienen in den Vordergrund rückt, ist es verständlich, dass das Lerntempo leidet, da der Lehrer zum einen so gut wie möglich unterrichten will und zum anderen es sinnvoll erscheint, wenn der Schüler lieber längere als kürzere Zeit bleibt. Und wenn dann nicht mehr angewendet wird, was geübt wird, weil eine lokale Polizei gegründet wird, dann kann es passieren, dass die Anwendbarkeit in den Hintergrund gerät. So gibt es in allen Stilen Lehrer, die sagen, sie haben noch nie gekämpft und sie mussten auch nie kämpfen. Und hier wird das Reden natürlich immer wichtiger. Und aus der Anwendung wird Theorie und Philosophie und es entstehen Leitsätze und Ideen, die vorher noch völlig irrelevant waren. Dann kommen Westler dazu, und wenn man sie nicht wegschickt, unterrichtet man sie lückenhaft und falsch, weil die chinesische Kampfkunst nichts für Westler ist. Auch Halbchinesen wurden früher weggeschickt, auch Bruce Lee. Dann werden die Namen von Lehrern immer wichtiger und die Namen der Lehrerlehrer und Lehrerlehrerlehrer. Dann kommt dazu die Unfähigkeit Lücken zuzugeben und es wird die Art der Präsentation verbessert, so dass für den Unbedarften das ganze hochfunktionell und effektiv erscheint. Das Großmeistertum ist geboren, denn wer kämpfen kann, der kämpft nicht mehr. Dann werden Übungen immer wichtiger und man kann sie ausfeilen und verbessern bis nichts natürliches mehr enthalten ist. Und genau diese Fremdheit und dieser unnatürliche Look fasziniert die Leute und sie wollen Teil des großen Stiles werden. Das passiert glaube ich allen "Kampfkünsten" und warum sollte es genau im Wing Chun anders sein...?!
Also handelt es sich um stilistische Löcher, Bereiche die nicht abgedeckt sind, menschliches Versagen und ich beziehe das auf alle, die ein Teil dessen sind oder waren.
Ich denke, jedem ist doch die Zeit zu schade, jahrelang etwas zu lernen, was letzten Endes nicht funktioniert. Wäre da nicht die Zeit, die man schon darin investiert hat. Die vielen Jahre von Lügen, Politik, Götzenverehrung und Irrsinn. Das meine ich völlig Stilübergreifend, das geht uns wirklich alle an finde ich.
Jede "Kampfkunst", ich zähle da auch Boxen zu usw. hat ihre Stärken und Schwächen und das Problem sehe ich darin, dass nicht ausreichend an den Schwächen gearbeitet wird, weil Idealen hinterhergerannt wird, die es nie gab. Diese werden heute vorangetrieben durch Filme, insbesondere im Wing Chun Bereich.
Dann ist da immer noch das Patriarchat. Wir bezeichnen uns selbst als aufgeklärt, wie kann es dann sein, dass heute immer noch in einem feudalen Modell unterrichtet wird?
Ja, ich habe einiges weggeworfen, vor mehr als zehn Jahren. Ich habe mich dann weitergebildet und hatte das Glück und auch Pech von einigen Leuten zu lernen die mehr oder weniger gut waren. Schlußendlich konnte mir einer erklären, was die Prinzipien hinter dem ganzen sind und wie man sie übt. Dann entstehen Anwendbarkeit und Anwendung ganz von allein, natürlich mit viel Training und Sparring, über- und unterliegen. So wie das nunmal ist oder sein sollte, meiner Meinung nach.
So... viel geredet, nichts gesagt. Ich finde, das Wing Chun ist an einem dead end. Leute glauben zu wissen, wie es aussehen muss, dass es Wing Chun ist und genau diese Vorstellung sorgt dafür, dass es nicht funktioniert und auch nicht funktionieren kann.
Da ruft mich einer an vor zwei Jahren, vielleicht auch drei. Er sagt dann nach einem längeren Gespräch, er macht seit 40 Jahren Wing Chun, kann es aber nicht anwenden. Ob ich ihm zeigen kann, wie wir das machen... habe ihm einen Workshop angeboten, er hat sich nicht mehr gemeldet. Ich denke, die Hürde, das aufzugeben, woran man sich seit vielen Jahren klammert, fällt so schwer, dass ein Überleben des Stils nur in einer jungen Generation liegen kann, die von Grund auf anders lernt und aufgeklärt verifiziert und falsifiziert.
Pit