Hallo,
für diejenigen Mitleser, die sich für die historischen Ursachen dieser Abweichung(en) interessieren sollten:
Zunächst ist wichtig zu verstehen, dass „Karate“ und damit Kata im ausgehenden Königreich Ryūkyū auf sehr individuellen Übertragungslinien von einem Adepten zum Nächsten übertragen wurden, und zwar häufig über einen längeren Zeitraum, der ein sehr detailliertes Lehren und Lernen ermöglichte. Mit dem Aufkommen der ersten Karate-Organisationen und der damit einhergehenden und stetig weiter um sich greifenden Institutionalisierung dieser zuvor eher individuellen Kampfkunst ab den 1910er Jahren in der Präfektur Okinawa und bald darauf auf den japanischen Hauptinseln weichten die zuvor hochgehaltenen Übertragungslinien teilweise auf und wurden durch „Austausch“ innerhalb von größeren Gruppen ersetzt, in denen mehr und mehr „Gremien“ oder Abstimmungen untereinander Arten und Inhalte des Karate (und damit der Kata) bestimmten und in der Folge unterrichteten. Zugleich verminderte sich oftmals die Unterrichtszeit für bestimmten Lehrstoff. So behauptete etwa G. Funakoshi (1868–1957) Naihanchi (Tekki) über einen Zeitraum von ungefähr zehn Jahren unter A. Itosu (1831–1915) gelernt und geübt zu haben, was z. B. K. Mabuni (1889–1952) rein rechnerisch unter demselben Lehrer kaum mehr möglich war.
Jedenfalls stellte jener A. Itosu in dieser Übergangszeit die Pinan-Serie, die später von G. Funakoshi „Heian“ genannt werden sollte, zusammen, nachdem er selbst wohl mehr oder weniger lange eine „ältere“ Urform als Basis für sie erlernte. Mit anderen Worten ausgedrückt, veränderte bereits A. Itosu eine vermutlich „ältere“ Form, um seine Pinan-Serie zu schaffen. Hierzu mag ein Stück Folklore aus der Gegend von Tomari von Interesse sein, der zufolge A. Itosu selbst die vermeintliche Urform möglicherweise an nur einem Tag, gewissermaßen „im Vorbeigehen“, aufgegriffen haben soll. Falls dies den Tatsachen entspräche – was ich nicht weiß –, dann beruhte seine Pinan-Serie nicht auf einer detailliert übertragenen Form, und seine Ausführung der jeweiligen Gesten wäre in einigen Fällen eher interpretativer Natur. Jedenfalls verlautbarte A. Itosus Schüler C. Motobu (1870–1944), der selbst kein wirklicher „Fan“ von ihm war, dass sich die Pinan bereits zu A. Itosus Lebzeiten verändert habe, u. a. aufgrund des eingangs erwähnten „Austauschs“ innerhalb bestimmter Gruppen (vgl. dazu „Band I“, S. 138 f.).
Schon bevor die Pinan-Serie also die japanischen Hauptinseln erreichte, gab es von ihr unterschiedliche Fassungen – und für ihren Kompilator, A. Itosu, schien das auch in Ordnung gegangen zu sein …
Was nun die entsprechende Stelle in Pinan (Heian) Yondan betrifft, so beschreibt G. Funakoshi ab 1922 recht deutlich eine Kreisbewegung bzw. eine halbkreisförmige Bewegung, die in dem Angriff mit dem Faustrücken („Ura-Te“ bzw. „Uraken“) mündet. Demzufolge wäre es richtig, die Ausführung jener Geste, wie sie von H. Kanazawa (1931–2019) gezeigt wird, als „alte“ Fassung zu bezeichnen, wenn die frühsten, tatsächlich in Wort und Bild erhaltenen Darstellungen von Pinan Yondan als Referenz Verwendung finden. Ältere Erklärungen zu diesem Ablauf sind derzeit nicht bekannt.
Nun vollzog sich G. Funakoshis Unterricht auf den japanischen Hauptinseln vereinfacht innerhalb von drei Milieus, wobei hier vor allem das der universitären Karate-Klubs von Bedeutung ist. Diese Karate-Klubs wurden von ihm als „Lehrmeister“ betreut, doch der eigentliche tägliche Unterricht wurde jeweils von deren ältesten Mitgliedern („Senpai“ oder „Kapitän“ genannt) geleitet. Diese hatten selbst nur wenig Karate-Praxis, da der Zeitraum im Universitäts-Karate-Klub nur ein paar Jahre (vier) betrug. Abgänger trainierten danach mehr oder weniger regelmäßig und konnten als Berater dieser Klubs fungieren. Mit der Zeit kam es innerhalb der jeweiligen universitären Karate-Klubs durch Abstimmungen u. Ä. zwischen den älteren Mitgliedern und den beratenden und noch aktiven ehemaligen Studenten zu eigenständigen technischen Entwicklungen und Abwandlungen. G. Funakoshi duldete und förderte diese innerhalb eines gewissen Toleranzbereichs.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dann die JKA als eine Art Zusammenschluss der einzelnen Universitätsklubs gegründet, wobei hier nur von Bedeutung ist, dass am Ende vor allem ältere Mitglieder des Karate-Klubs der Takushoku-Universität den Kern dieser Organisation bildeten, was dazu führte, dass insbesondere die technischen Eigenheiten und Ausführweisen dieses Klubs die maßgebliche Grundlage für die vorangetriebene Erneuerung und Normierung des von ihr gelehrten Karate bildete (vgl. dazu „Band I“, S. 172 ff.). Hinsichtlich der entsprechenden Stelle in Heian Yondan lehrte die JKA ab einem Punkt (ob das aktuell noch so ist, weiß ich nicht) ganz klar die kreisförmige Bewegung hin zum Faustrückenangriff („Uraken“). H. Kanazawa, der später das SKI gründete, war sowohl Mitglied des Takushoku-Karate-Klubs als auch der JKA, was erklärt, weshalb er eben diese kreisförmige Bewegung ausführte.
Parallel dazu gründete T. Sasaki (1926–1992), dessen Karate-Einfluss vom Karate-Klub der Keiō-Universität stammte, eine andere Organisation, den Chidōkai. In dieser kleinen Organisation wurde die entsprechende Stelle in Heian Yondan als nur kurze, nach hinten oben gerichtete Zurückziehbewegung, der eine ebenso kurze, etwa dem Fünftel einer Kreisbahn entsprechende Schlagbewegung hin zum Faustrückenangriff folgte, ausgeübt und unterrichtet. Als es 1964 zur endgültigen Gründung des später JKF genannten Sport-Karate-Dachverbands in Japan kam, wurden aufgrund von persönlichen Beziehungen (Seilschaften) zwischen verantwortlichen Funktionären, die dem Keiō-Karate-Klub entstammten, die Kata-Fassungen jenes Chidōkai als Normen für die „Shōtōkan“-Abteilung jenes Dachverbands bestimmt. Dieser japanische Dachverband war daraufhin bei der Gründung des heute als WKF benannten, weltweit größten Dachverbands für Sport-Karate von enormer Bedeutung, auch was die Kata-Normen betraf. Der deutsche Dachverband für Sport-Karate, heute DKV genannt, war und ist Mitglied der WKF und folgt somit – zumindest auf Wettkampfebene – den technischen Normen der WKF-Kata. Durch diese historischen und institutionellen Verknüpfungen kam es dazu, dass die im DKV-Shōtōkan „offiziell“ vom Kata-Bundestrainer (falls dieser so genannt wird) gelehrten Kata auf die des Chidōkai zurückgehen und daher auch die hier behandelte Geste im DKV so und nicht anders ausgeführt wird …
Ausführlich untersuche ich die Frage der Veränderungen in den Kata aus historischer Sicht in meinem „Band II“, S. 151 ff., und würde bitten, bei Interesse dort nachzulesen …
Grüße,
Henning Wittwer
Nun, die Information, dass er sich mit den maßgeblichen technischen Instruktoren abstimmt, habe ich von im persönlich. Also jedenfalls, falls Efthimios gemeint sein sollte.
Es gibt in allen Versionen, die du bisher gezeigt hast, diesen Wechsel. Nur, dass ausschließlich der YouTube Sensei das in einer ziemlich sinnbefreiten Version ausführt. (Solltest du mir dazu eine sinnvolle Bunkai zeigen können, nehme ich den Vorwurf selbstverständlich sofort zurück.)
Richtig weiß ich nicht. Aber sinnvoll.
Wir machen das auch in etwa so. Ist aber dasselbe wie bei Kanazawa, der im Grunde dieselbe Bewegung - nur pronocierter - ausführt. Unser Lehrer hat im Übrigen ebenfalls bei Kanazawa trainiert (und anderen). Zudem bezieht er sich auf die Bücher von Shoji Hiroshi, seinerzeit technischer Direktor der JKA. Es sollte sich zumindest um eine „alte“ Form handeln. Hier wäre erneut die Frage, was der TE mit „alt“ meint und woher er weiß d ie ausgesehen haben soll.
Vielleicht nicht mal Letzteres. Ansonsten vermute ich das auch.
„Grau teurer Freund, ist alle Theorie. Und grün des Lebens goldner Baum.“
[QUOTE=Gibukai;3851509
für diejenigen Mitleser, die sich für die historischen Ursachen dieser Abweichung(en) interessieren sollten:
Grüße,
Henning Wittwer[/QUOTE]
Wow. so viel.
ich glaube die machen es auch so.
https://www.youtube.com/watch?v=bq8-Pu9jm3E
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