Hallo,

danke für die freundlichen Worte über meine Bücher – sie freuen mich wirklich!

Ganz grundsätzlich ist es eher ungünstig, wenn heutzutage von „Shōtōkan-Ryū“ geredet/geschrieben wird und damit eine Art inhaltlich wie organisatorisch einheitliches Konstrukt gemeint sein soll. Bereits im Sport-Karate sind z. B. das „Shōtōkan-Ryū“ der JKA und der SKI mehr oder weniger verschieden voneinander, auch wenn das nicht unmittelbar auffällt. Wenn unter „Shōtōkan-Ryū“ aus historischer Sicht vereinfacht das von G. Funakoshi (1868–1957) unterrichtete Karate gemeint sein sollte, müsste bitte ebenso beachtet werden, dass er durchaus je nach unterrichteter Gruppe unterschiedlichen Lehrstoff vermittelte. Dies betraf etwa die Anzahl der Kata oder sogar bestimmte Kata selbst (d. h. in Gruppe X lehrte er Kata A ohne sie in Gruppe Y oder Gruppe Z zu lehren und umgekehrt).

G. Funakoshi selbst kannte die Kata Sanchin, und zwar wahrscheinlich in verschiedenen Ausführformen bzw. aus verschiedenen Übertragungslinien. Bereits in seinem ersten Artikel über Karate von 1913 listet er Sanchin als ein in Okinawa verbreitetes Tī (d. h. eine Kata) auf (vgl. meine Übersetzung in Band III, S. 10 ff.). In seinem ersten Karate-Buch von 1922 beschreibt er kurz den Stand „Sanchin-Dachi“ und fügt eine Skizze hinzu. Zu beachten ist hierbei, dass er 1925 quasi denselben Text mit nur einem kurzen Zusatz nutzt, um „Naihanchi-Dachi“ vorzustellen. „Sanchin-Dachi“ ließ er ab da wegfallen. Übrigens handelte es sich 1922 möglicherweise um eine Art Druckfehler, so dass auch 1922 „Naihanchi-Dachi“ statt „Sanchin-Dachi“ im Text hätte stehen sollen. Druckfehler solcher Art kamen regelmäßig vor, was umgekehrt aber nicht bedeuten muss, dass der 1922er Sanchin-Dachi tatsächlich ein solcher war. Doch die Möglichkeit kann ich nicht ausschließen.

1925 listet er in seinem zweiten Buch den Namen der Kata in der Aussprache „Sanshin“ und der Bedeutung „Dreimaliges Voranschreiten“. Sanshin wäre also der korrekte Name innerhalb des Funakoshi-Karate.

Der verlinkte Film entstand im Vorfeld des fünfzigsten Geburtstags des Karate-Klubs der Keiō-Universität und sollte die Kata-Ausführungen, die die Senior-Mitglieder jenes Karate-Klubs in ihren Anfangsjahren meist unter G. Funakoshi selbst lernten und trainierten, dokumentieren und so bewahren helfen. Bereits während der Feierlichkeiten zum zehnjährigen Bestehen im Jahre 1934 gehörte Sanshin (Sanchin) zu den damals vorgeführten Kata des Keiō-Klubs (vgl. Band II, S. 47). Und schon 1931 war Sanshin „Prüfungs-Kata“ zum Erlangen der Lizenz der dritten Stufe (Sandan) jenes Karate-Klubs (vgl. Band III, S. 210 ff.).

Mit anderen Worten war Sanshin eindeutig Teil des Lehrgebäudes des Karate-Klubs der Keiō-Universität, der sich selbst stolz in der direkten Linie von G. Funakoshi sieht, obgleich diese in seinen Anfangsjahren noch nicht als „Shōtōkan-Ryū“ bezeichnet wurde. Denn der historische Shōtōkan wurde erst 1938 errichtet.

Wie eingangs angedeutet, lernten und übten allerdings nicht alle Gruppen, für die G. Funakoshi als Lehrmeister fungierte, die Kata Sanshin. Keiō galt im Funakoshi-Karate-Umfeld über Jahrzehnte als der „Kata-Klub“, da dort die meisten Kata geübt wurden. Dies hing u. a., aber nicht ausschließlich, mit dem Alter dieses Karate-Klubs zusammen. Im Unterschied dazu lehrte beispielsweise der Karate-Klub der Waseda-Universität, dem mein Karate-Lehrer, M. Harada (1928–2021), angehörte, „nur“ fünfzehn Kata. Wer an weiteren Abläufen interessiert war, musste diese nach dem Zweiten Weltkrieg von Keiō-Mitgliedern lernen. Jedenfalls führte dieser Umstand dazu, dass im Waseda-Klub Sanshin kein Teil des Lehrgebäudes war, obwohl auch dieser ein früher Klub in der direkten Linie von G. Funakoshi war.

Nachdem ab 1938 der Shōtōkan als Hauptquartier für das Karate von G. Funakoshi und seinen dritten Sohn, Y. Funakoshi (1906–1945), errichtet worden war, konnten sich die Funakoshis unabhängig von den verschiedenen Karate-Klubs außerhalb daran machen, ein in sich schlüssiges Lehrgebäude auszuarbeiten, das die Inhalte und das Lernziel des Funakoshi-Karate, ab 1939 „Shōtōkan-Ryū“ genannt, bestmöglich vermittelte. U. a. wurden hierfür neue Kata zusammengestellt, z. B. „Taikyoku“, „Ten no Kata“, „Matsukaze no Kon“. Allerdings konnte aus historischen Gründen dieses Lehrgebäude nie vollendet werden, da aufgrund des Zweiten Weltkriegs G. Funakoshi aus Tōkyō evakuiert wurde, der Shōtōkan infolge von Brandbombenabwürfen abbrannte und Ende 1945 Y. Funakoshi starb. Erfreulicherweise sind zumindest die Grundlagen dieses Lehrgebäudes und die Lernziele recht klar in Wort und Bild festgehalten worden, insbesondere in G. Funakoshis „Einführung in das Karate“ von 1943. Wer sich dafür interessiert, sollte dieses Werk sehr genau lesen …

Jedenfalls fehlt in der 1943er Kata-Liste der Name Sanshin. Doch tatsächlich sollte diese Kata wohl während der Hochzeit des historischen Shōtōkan in dessen Lehrgebäude eingegliedert werden. Dabei handelt es sich um historisches Wissen, das mündlich überliefert wurde. Allerdings scheiterte dies wohl aus den zuvor genannten Gründen. Ebenfalls der mündlichen Überlieferung (historischem Wissen) zufolge, gliche diese Shōtōkan-Version von Sanchin den heutigen Versionen im Gōjū-Ryū oder Shitō-Ryū usw. nicht! Sie sollte u. a. in Fudō-Dachi ausgeführt werden und sähe dann etwa grob so wie auf den beigefügten Fotos aus.

Sanchin Shoto.jpg

Abgesehen davon lernten später natürlich auch hier und da JKA-Trainer usw. Sanchin-Fassungen aus dem Gōjū-Ryū oder Shitō-Ryū usw. Jedoch hat dies nichts mit der oben kurz umrissenen historischen Sanshin des Funakoshi-Karate zu tun.

Grüße,

Henning Wittwer