Ein interessanter Artikel bzw. interessantes Buch, gefunden auf http://www.merkur.bonnet.de/aktuell/la/wiss_033401.html
BOXEN / Ein Neurologe urteilt nach jahrzehntelanger Forschung als medizinischer Ringrichter
Abbruch heißt sein Rezept
Er wird attackiert und bedroht. Doch Friedrich Unterharnscheidt will nur eines: beweisen, wie gefährlich es ist, wenn Fäuste auf Gehirne zielen.
SCHWERERSCHLAG: Sven Ottke trifft den Engländer David Starie nach den Regeln der Kunst und bleibt am 14. Juni 2003 Weltmeister.
Foto: Bongarts
Autor: HENNO LOHMEYER
Mit einem nassen Handtuch werden wir dich erschlagen“, „Bald kannst du deine eigene weiche Birne untersuchen“ – dergleichen gepfefferte Drohungen werden Friedrich Unterharnscheidt wie früher auch jetzt wieder erreichen, in Telefonaten und Briefen, natürlich anonym. Anlass gibt sein neues Buch, das gerade in den USA erschienen ist: „Boxing – Medical Aspects“.
Kühl und sachlich erklärt der 77-jährige Wissenschaftler in diesem enzyklopädischen Werk, dass und wie die Faustkampfhelden, ob Profis oder Amateure, sich irreparable Gehinschäden zuziehen und die schlagtrunkenden Invaliden von morgen sein werden. Doch TV-Bosse, Veranstalter, Manager und Ringgladiatoren, die mit einem einzigen hochgepuschten Medienspektakel leicht Hunderte von Millionen Dollar Profit einstreichen, lassen sich nicht gern ihr Geschäft verderben, auch nicht von diesem älteren Herrn im weißen Kittel. Der sieht deren unakademische Reaktionen auf seine Forschungsergebnisse eher amüsiert als verängstigt. Er ist Nackenschläge gewohnt.
Ein Physiker ist dabei
Vor fast einem halben Jahrhundert begann der Psychiater und Neurologe Unterharnscheidt zusammen mit seinem Freund Karl Sellier, einem Gerichtsmediziner und Physiker, an der Universitätsklinik in Bonn die Schwellenbereiche für Gehirnerschütterungen exakt zu untersuchen und zu definieren. Viele Kollegen belächelten die noch nie praktizierte Kombination von Physik und Medizin der beiden. So nahmen sie auch nicht die komplexen Tierversuche ernst, bei denen die Gehirne nicht nur sofort nach einem Aufprall oder Stoß analysiert wurden, sondern auch noch Wochen und Monate danach – und darauf kam es an.
„Damals wurden unsere Forschungen als törichte Verschwendung von Zeit und Geld deklassiert“, erinnert sich Unterharnscheidt. Als die beiden Außenseiter jedoch 1963 das Ergebnis ihrer Arbeiten unter dem Titel „Mechanik und Pathomorphologie der Gehirnschäden nach stumpfer Gewalteinwirkung auf den Schädel“ veröffentlichten und Unterharnscheidt noch im gleichen Jahr die Monografie „Die gedeckten Schäden des Gehirns“ hinterherschickte, reagierte die medizinische Fachwelt mit einem friedlichen Schlagabtausch aus Überraschung, Verblüffung und sogar aus Anerkennung.
Auf einen einfachen Nenner gebracht, bewiesen Sellier und Unterharnscheidt, dass nicht nur die so genannten scharfen oder offenen Gewalteinwirkungen durch Stürze und Schüsse dauerhafte Gehirnschäden hervorrufen, sondern auch stumpfe Gewalteinwirkungen von geringerer Stoßkraft, sobald sich diese multiplizieren.
Während solche Erkenntnisse zunächst meist vorrangig für die Diagnose und Therapie von Kriegs-, Verkehrs- und Berufsunfallopfern sowie Epileptikern formuliert wurden, bezogen Sellier und Unterharnscheidt auch Athleten ein. „Sportler erleiden oft wiederholte stumpfe Gewalteinwirkungen auf den Schädel, etwa Amateur- und Profiboxer“, erklärten sie. „Ein guter Mittelgewichts- bis Schwergewichtsboxer kann in eine nach allen Regeln der Kunst geschlagene rechte Gerade etwa eine Geschwindigkeit von acht bis zehn Meter pro Sekunde legen. Dieses Tempo kann dem getroffenen Schädel eine solche Beschleunigung geben, dass eine Commotio cerebri (Gehirnerschütterung mit Bewusstlosigkeit) möglich ist.“ Welche Folgen es hat, wenn (verbotene) Kopfstöße eingesetzt werden, zeigten am vergangenen Samstag die TV-Bilder vom Kampf zwischen Markus Beyer und dem Australier Danny Green.
Anfang der sechziger Jahre diskutierten Fach- und Tagespresse immer wieder über gefährliche, manchmal auch tödlich endende Boxkämpfe. Doch Angaben darüber, in welchem Maß größere Gruppen von Amateur- und Berufsboxern Schäden erlitten hatten, gab es nicht. Die Boxverbände hatten nur Hohn, Häme und Verdrängung für die übrig, die Genaueres wissen wollten.
Doch Unterharnscheidt, inzwischen Privatdozent für Neurologie und Psychiatrie, ließ das Phänomen Boxen und dessen Risiken zeitlebens nicht mehr los. Heute, 40 Jahre später, nach einer Karriere in den USA, einer Hand voll wichtiger Fachbücher und Hunderten von wissenschaftlichen Aufsätzen, hat er mit den fast 800 Seiten über „Boxing – Medical Aspects“ sein Lebenswerk vorgelegt. Es ist freilich erst der Auftakt einer Trilogie. „Die Geschichte des Boxens“ und „Boxen – die juristischen Perspektiven“ sind in Vorbereitung.
Unterharnscheidts Darstellung, vom Autor selbstironisch als „ziemlich teutonisch“ bezeichnet, reicht von der Mechanik des Schlagens und der Fülle möglicher Boxverletzungen (einschließlich Augen, Gehör, Gelenke, innere Organe) über klinische Erkenntnisse und Beispiele gehirngeschädigter Boxer (von Bubi Scholz bis Muhammad Ali) über Ringregeln und das Repertoire verbotener Schläge bis hin zu einer Analyse der Zuschauer. Komplettiert wird das Buch durch mehrere hundert Grafiken, Zeichnungen, Statistiken, Röntgenaufnahmen und Fotos.
Das Ästhetische am Kampf
Sie allein könnten genügen, Boxen als legale Form des Tötens zu bezeichnen. So geschah es Anfang Mai 2003, dass das Landgericht Patras den griechischen Mittelgewichtler Tassos Berdesis wegen Totschlags im Ring zu drei Jahren Haft – jedoch auf Bewährung – verurteilte. Doch im Publikum gibt es oft ganz andere Urteile: Das Boxen sei eine archaische und durchaus ästhetische Form des Kämpfens, heißt es dort, mit taktischen Herausforderungen, immenser Kondition, viel Spannung, einer bunten, schillernden Szene und der großen Chance, sich mit nationalen Helden zu identifizieren.
„Es gibt wahrscheinlich kein umstritteneres, schwieriger definierbares und leichter entflammbares Thema als die Frage nach dem relativen Wert und den Risiken des Boxens“, stellt Unterharnscheidt in der Einleitung seines Buches fest. „Immer wenn ein Boxer im Ring getötet wird, wird die öffentliche Debatte neu entfacht. Regierungsbehörden und Sportverbände diskutieren unentwegt Mittel und Wege, Boxen sicherer zu machen, oder die Frage, ob es überhaupt verboten werden soll.“ Weiter schreibt er: „Die Mehrheit der Mediziner ist der übereinstimmenden Meinung, dass Boxen gesundheitsschädigende und tödliche Verletzungen zur Folge haben kann. Damit allerdings endet die gemeinsame Position.“
Unterharnscheidt, seit 1974 amerikanischer Staatsbürger und nach eigener Überzeugung ein „Dinosaurier der Gehirnforschung“, lebt heute in Lexington, Kentucky, nur eine gute Autostunde vom Geburtsort Muhammad Alis entfernt. Ali, die lebende Legende des Boxsports, ist für Unterharnscheidt „das beste Beispiel“ für seine These, dass zu viele Schläge auf den Kopf nicht ohne verheerende Folgen bleiben. „Tatsache ist, dass Ali an einem traumatischen Parkinsonismus leidet, was immer die Dementierer behaupten mögen.“
Anders, als man es nach solchen Ausführungen erwarten sollte, stellen Friedrich Unterharnscheidt und seine Frau Julia, eine Anwältin, im Schlusswort zu ihrem eindrucksvollen Nach-Schlage-Werk fest: „Es ist nicht unsere Absicht, darüber zu theoretisieren, ob es Boxen in seiner derzeitigen Form geben soll oder nicht. Doch alle Entscheidungen sollten unter Berücksichtigung der medizinischen Tatsachen getroffen werden. Wir haben nur das gesamte verfügbare medizinische Beweismaterial zwischen zwei Buchdeckel gepackt, für alle diejenigen, die ernstlich daran interessiert sind, welche gesundheitlichen Auswirkungen das Boxen hat.“
Schäden für immer
Im Detail liest sich das so: „Jahrzehnte wissenschaftlichen Forschens und Beobachtens haben uns zur uneingeschränkten Überzeugung gebracht, dass klare Kopftreffer und Zusammenstöße pathologische Veränderungen in der Gehirnmasse hervorrufen. Wir können an dieser zuverlässig gesicherten Tatsache wenig ändern. Wenn dem Gehirn Schaden zugefügt ist, kann der Mediziner nur die Auswirkungen mildern, meistens mit unbefriedigendem Resultat. Die Verletzung der Zellenstrukturen im Gehirn und seines Kreislaufsystems kann nicht rückgängig gemacht werden. Der einzige sichere Weg, Gehirnschäden zu vermeiden, ist, vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet, das Trauma zu vermeiden, das die Schäden verursacht.“
Die Diskussion um die von Jack London und Ernest Hemingway heroisierte und von Joe Louis, Max Schmeling und Sugar Ray Robinson popularisierte „noble Art der Selbstverteidigung“, die Mike Tyson und Don King auf ihre Weise diskreditierten, wird durch Unterharnscheidts Box-Opus erneut entfacht werden. Es bleibt zu hoffen, dass seine eindringliche Warnung nicht weiter unter den Ringbelag gekehrt wird – und dass seinen Kritikern mehr einfällt als finstere Drohungen dieses Stils: „Wir nehmen dich in der Luft auseinander, du Spinner.“
Das Buch Boxing – Medical Aspects von Friedrich J. Unterharnscheidt und Julia Taylor-Unterharnscheidt ist im Verlag Elsevier Science/Academic Press (San Diego, Kalifornien) erschienen. Es umfasst 796 Seiten und kostet 195 US-Dollar.