3 Anhang/Anhänge
Technikgeschichte Shōtōkan-Ryū: Heian, Uke
Hallo,
Fragen zur „Technikgeschichte“ sind immer kniffelig, lassen sich aber für die Zeit vor 1922 nur noch sehr bedingt beantworten. Um mal hinten zu beginnen:
(1) Kōkutsu-Dachi löste Neko-Ashi-Dachi in Heian (Pinan) ab?
Es gibt einige Schulrichtungen, die in Heian (Pinan) den Neko-Ashi-Dachi (vielleicht auch unter anderer Bezeichnung) verwenden. Aber das bedeutet nicht, dass dies die „ursprüngliche“ Ausführweise ist. Tatsächlich gibt es neben dem Shōtōkan-Ryū andere Karate-Richtungen, die ebenfalls so etwas wie „Kōkutsu-Dachi“ in Pinan verwenden. Und es gibt Schulrichtungen, die so etwas wie „Zenkutsu-Dachi“ an den entsprechenden Stellen der Abläufe verwenden. Es gibt auch eine Richtung, die dabei eher natürlich gestreckte Beine einsetzt. Das alles sind persönliche Anpassungen für mehr oder weniger kohärente Lehrgebäude.
Die Pinan-Serie wurde bereits zu Lebzeiten von A. Itosu (1831–1915) von seinen Schülern verändert. Das geht u. a. aus den Aussagen von C. Motobu (1870–1944), einem Zeitzeugen und Schüler von A. Itosu, hervor. Meine Übersetzung dieser Aussage findet sich bei Interesse in meinem „Shōtōkan Band I“, S. 138 f.
Dieses Verändern war im herkömmlichen „Karate“ ganz normal. Dabei ging es um Anpassungen an das persönliche Lehrgebäude. Im Fall von G. Funakoshi war A. Asato (1828–1906) der technische Dreh- und Angelpunkt. D. h. G. Funakoshi passte alles, was er von anderen Lehrern lernte, in Richtung A. Asato an. Andere Karate-Lehrer passten sie entsprechend ihrer Lehrgebäude an. Es gab keine „einheitliche“ Pinan-Serie.
Um zu belegen, dass Neko-Ashi-Dachi vor Kōkutsu-Dachi in der Pinan-Serie die Norm war, muss eine technische Beschreibung und/oder technische Illustrationen, die vor 1922 entstanden sind, als Quelle(n) angeführt werden. Denn die erste technische Beschreibung in Wort und Bild der Pinan-Serie stammt von G. Funakoshi und aus dem Jahr 1922. Und genau da ist kein Neko-Ashi-Dachi zu sehen:
Anhang 47743
Andere Schüler von A. Itosu verwenden ebenso einen ähnlich wirkenden Kōkutsu-Dachi, z. S. Gusukuma (1890–1954) 1938:
Anhang 47744
Der Gedanke, dass Neko-Ashi-Dachi in Pinan ursprünglicher als Kōkutsu-Dachi sei, ist nicht belegbare Stilpropaganda und/oder Halbwissen von den Schulrichtungen, die Neko-Ashi-Dachi in Pinan nutzen.
die spezifische Übertragungsline des Shōtōkan-Ryū, die einmalig ist.
Neben dieser historischen Ursache der unterschiedlichen Übertragungslinien spiel(t)en dabei auch technische Aspekte eine wesentliche Rolle. Ein wichtiger technischer Punkt betrifft die spezifische „Krafterzeugung“ und „Kraftübertragung“ (Körpermechanik) des Shōtōkan-Ryū. Der zweite wichtige technische Punkt betrifft den Gebrauch von Waffen (insbesondere Stock), der als technische Grundlage im Shōtōkan-Ryū gilt (dem, das abseits des JKA-Sport-Karate und zuvor verbreitet war/ist). Auch die Bō-Formen sind von den persönlichen Lehrgebäuden abhängig, und wenn da Neko-Ashi-Dachi verwendet wird, ist es keine Stockform im Shōtōkan-Stil, mit einer eigenen Körpermechanik, Taktik usw.
(2) Ich erzähle, Y. Funakoshi (1906–1945) änderte die beidhändige hebende Annahme (Sōshu Age-Uke) in Bassai und diese Änderung hat sich „wohl“ nicht erhalten?
In meinem „Band II“, S. 160 ff., führe ich diese Kata-Geste als eines von mehreren Beispielen für Veränderungen in Kata an, und übersetze dafür eine offenbar mündlich von Y. Funakoshi getroffene Begründung zu dieser Veränderung aus dem Japanischen ins Deutsche, die auf einem Zeugnis von M. Hironishi (1913–1999) beruht. Ich selbst bin kein Zeitzeuge dieser Veränderung, da ich damals noch nicht am Leben war. Diese Veränderung zu einer eher seitlichen Haltung mit zwei sich gleichzeitig hebenden Händen ist zwar im JKA-Shōtōkan unüblich, aber mein verstorbener Lehrer übte sie, viele Mitglieder von Shōtōkai Japan üben sie und ich übe sie. Mit anderen Worten hat sie sich „erhalten“, ist aber in bestimmten Shōtōkan-Gruppen unbekannt oder wurde abgelehnt.
Abgesehen davon gibt es Fassungen von Bassai (Passai) aus anderen Übertragungslinien, in denen eine eher seitliche Haltung mit zwei sich gleichzeitig hebenden Händen tradiert wurde, etwa „Motobu no Passai“ oder „Kyan no Passai“ (meint nicht die Passai des Matsubayashi-Ryū).
(3) Wie übte G. Funakoshi übte den Zenkutsu-Dachi mit Gedan-Barai in Heian (Pinan) aus?
G. Funakoshi lässt seinen Bauchnabel bei der Geste „Gedan-Barai“ in Heian jeweils mehr oder weniger im rechten Winkel vom Gedan-Barai-Arm in seiner „Endposition“ wegzeigen. Ganz ähnlich, aber deutlicher trifft dies bei Tekki Shodan (Naihanchi Shodan) zu. Dabei handelt es sich um einen sichtbaren Unterschied etwa zur Ausführweise von Pinan im Matsubayashi-Ryū, bei der Bauchnabel und Arm am „Ende“ des Gedan-Barai mehr oder minder in die gleiche Richtung weisen. Zum Vergleich:
Anhang 47745
Die historischen und technischen Ursachen sind dieselben wie in Punkt (1) weiter oben.
(4) Der Ratschlag, „vor allem in anderen Stilen zu suchen“, führte, wenn ihm nachgegangen werden würde, zu keiner Verbesserung von Shōtōkan-Ryū sondern zu seiner Verwässerung. Wer sich natürlich nur oberflächlich – egal ob eine Stunde oder mehrere Jahrzehnte – damit befasst bzw. befassen kann, wird meine Aussage vermutlich nicht verstehen. Der Begriff wurde nie markenrechtlich geschützt und ich selbst habe viel „Shōtōkan-Ryū“ erleben und/oder sehen müssen, das selbstverständlich kaum über Tiefgang verfügt …
(5) In der kurzen Blütephase auf Okinawa wurde eher mit kleineren Waffen trainiert?
Bereits seit der Besiedlung des Ryūkyū-Archipels wurden unterschiedlichste Waffen eingeführt und verwendet. Spätestens seit dem 13. Jahrhundert fanden in dieser Region Bögen, Speere, Säbel, Schilde Verwendung. Ab dem 14. Jahrhundert lassen sich alle möglichen japanischen Waffen und Rüstungen auf jenen Inseln nachweisen und im 15. Jahrhundert standen auf der Insel Okinawa bereits Dutzende Festungen. Kanonen und Flinten wurden ebenfalls genutzt. Mit anderen Worten kann aus kampfkünstlerischer Sicht weder von einer „kurzen Blütephase“, noch von einer Betonung „kleiner Waffen“ gesprochen werden.
(6) „Uke“ im Shōtōkan-Ryū.
Ein letzter Punkt, der mir in diesem Thema ins Auge fiel: Offenbar wird der japanische Begriff „Uke“ hier von vielen Mitschreibern vor allem als bloße körperliche Geste, als eine Art körperlicher „Trick“ erachtet, demzufolge der Karateka gegen die „Handlung A“ seines Partners den „Trick X“, gegen „Handlung B“ den „Trick Y“, oder gegen „Handlung C“ den „Trick Z“ anwendet. Falls dem so sein sollte, wäre das ein gedanklicher Fallstrick, der Shōtōkan-Ryū zu einer simplen Kiste mit bunt zusammengewürfelten Tricks herabsetzen würde, es wäre nichts anderes als Bunkaiisieren von etwas, das einem selbst nicht vertraut ist und daher „interpretiert“ werden muss. (Ganz ähnlich ist die Fragestellung, wie die Hüften gebraucht werden, bereits bloßes Bunkaiisieren, da es ein Puzzleteilchen aus einem im Idealfall in sich schlüssigen Lehrgebäude herauslöst, ohne all seine anderen Aspekte einzubeziehen.)
Um dem Wortsinn von „Uke“ einigermaßen gerecht zu werden, habe ich lange überlegt, mit welchem deutschen Wort ich es am besten übersetzen könnte. Dabei beziehe ich mich natürlich vor allem auf G. Funakoshis Vorstellung von „Uke“, aber auch auf das, was mir mein verstorbener Lehrer in meinen Körper einimpfte. Wie einige Mitleser hier wissen, entschied (und entscheide) ich mich für „Annehmen“, da dieses deutsche Wort ähnlich komplex ist wie „Uke“.
Ja, es kommt vor, dass „Uke“ (Annehmen) im Shōtōkan-Ryū hier und da als bloße Geste erklärt und aufgefasst wird. Allerdings verbindet G. Funakoshi mehr mit diesem Begriff; für ihn ist es eher ein technisches Konzept, das der „Annehmende“ (Uke-Te) in Partnerübungen (Kumite) zu verstehen, zu erlernen und schließlich zu verkörpern hat. Dieses „Verkörpern“ wiederum dehnt sich auf das gesamte Lehrgebäude und letztlich die „Strömung“, d. h. Shōtōkan-Ryū, aus, so dass der Adept selbst Teil der Strömung und umgekehrt die Strömung Teil von ihm wird, wodurch die Strömung eher einem Lebewesen gleicht, als einer Art „Doktrin“. Ich weiß, dass das für einige Mitleser vermutlich abgehoben und/oder absonderlich erscheinen mag, doch ich meine es so, wie ich es formuliere.
Das Annehmen (Uke) im Shōtōkan-Ryū umfasst neben rein körperlichem Handeln ebenfalls geistiges Handeln: Als erstes nehme ich den Kampf an. Ich nehme die Körperbewegung meines Trainingspartners an, noch bevor es zu körperlichem Kontakt kommt; ich nehme den Abstand meines Trainingspartners an, noch bevor es zu körperlichem Kontakt kommt; ich nehme die Angriffsgliedmaße meines Trainingspartners an, noch bevor es zu körperlichem Kontakt kommt; ich nehme die Bewegungsrichtung des Angriffs an, noch bevor es zu körperlichem Kontakt kommt usw. All das ist bereits „Annehmen“ (Uke), obwohl es noch keine äußerlich erkennbare Körperbewegung enthalten muss. Der tatsächlich stattfindende, von mir als Uke-Te gesteuerte – weil ja zuvor bereits „angenommene“ – Körperkontakt kann dann auf alle möglichen Arten, von Schmerz erzeugend bis hin zu sanft streifend, erfolgen, sollte aber, wie bereits erwähnt, meinen ganzen Körper einbeziehen, also nicht allein „den Arm“ oder „die Hüften“. Auf diese Weise handelt es sich also um ein Annehmen mit ganzem Körper und Geist. Ich hoffe, das verdeutlicht, dass Uke nicht einfach eine bestimmte Geste meint. All das beschreibt G. Funakoshi erstaunlich detailliert in seinem „Nyūmon“, und ich würde bitten, bei Interesse in meiner Übersetzung nachzulesen.
Grüße,
Henning Wittwer