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Jugendgewalt: Angst in Sachsendorf
In einem Stadtteil von Cottbus werden seit Monaten Jugendliche von Gleichaltrigen bedroht und geschlagen. Die Täter sind keine Rechtsradikalen. Es ist eine Geschichte von misslungener Integration
Im Zentrum von Sachsendorf, einem Stadtteil von Cottbus, liegt zwischen Plattenbauten und Beton eine große Wiese. Lange standen hier zwei Tore, für die Fußballspiele der Jugendlichen aus der Nachbarschaft. Stets auf der einen Seite: "die Deutschen". Stets auf der anderen: "die Ausländer". Egal, was die Sozialarbeiter des Viertels auch versuchten, um die Teams zu mischen, so erzählen sie es, am Ende standen doch wieder die Kinder mit deutschen Eltern in der einen Hälfte und jene mit syrischen, afghanischen, ghanaischen Eltern in der anderen. Als sei da eine Grenze, die nicht zu überwinden ist.
Im Frühjahr kommt es bei einem Spiel zu Stress. Kinder aus der tschetschenischen Community hätten ihre großen Brüder zur Wiese gerufen. Doch die Sozialarbeiter kennen die jungen Männer, die nun eintreffen. Dass es in der Situation nicht zum Äußersten kam, habe nur am Vertrauen gelegen, das sie in der Vergangenheit aufgebaut hätten. So erzählt es ein Mitarbeiter von SOS-Kinderdorf Lausitz. Anstatt zu eskalieren, beruhigten die Älteren die Situation.
Der Frieden hält nicht lange. Ein paar Wochen später rufen Kinder aus der syrischen Community ihre großen Brüder. Diese kennen die Sozialarbeiter nicht. Ein Messer wird durch den Zaun gereicht, die Polizei muss anrücken. Danach werden die Fußballtore abgebaut.
In den Sommerferien beruft Tobias Schick, der sozialdemokratische Oberbürgermeister von Cottbus, eine Pressekonferenz ein. Die Situation in Sachsendorf sei nicht länger hinnehmbar, sagt er. Kinder und Jugendliche würden von Gleichaltrigen bedroht, geschlagen und ausgeraubt. Seit Monaten gehe das so. Oft passiert es auf dem Weg zur Sachsendorfer Oberschule, einer Art Gesamtschule ohne gymnasialen Zweig. Die Polizei ermittle gegen eine Gruppe von 50 bis 60 Heranwachsenden – die meisten von ihnen haben eine Migrationsgeschichte. "Von denen dürfen wir uns wirklich nicht auf der Nase herumtanzen lassen", sagt Schick. Um die Schulen des Stadtteils würden Zäune gezogen und Überwachungskameras installiert, ein Sicherheitsdienst solle bis auf Weiteres patrouillieren, wenn nötig auch vor der Grundschule.
...Probleme im Plattenbau, Gewalt durch Jugendgruppen in Ostdeutschland, das klingt vertraut – nur dass es diesmal keine Neonazis sind, die ihr Umfeld terrorisieren, sondern die Kinder eingewanderter Familien. Wie ist es dazu gekommen?
Die Analyse von Bürgermeister Schick lautet: "Ich glaube, dass wir heute immer noch die Folgen erleben von teils ungeregelter, teils ungesteuerter Zuwanderung der vergangenen Jahre."
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Als Bianca Scheuerecker, seit 30 Jahren Sozialarbeiterin im Viertel, die Pressekonferenz online verfolgte, dachte sie: Endlich sagt’s mal einer! Sie sitzt auf der Terrasse der Kinder- und Jugendeinrichtung "Juks". Ihre Dreadlocks hat sie zu einem Dutt zusammengebunden, um den Hals trägt sie eine Kette mit Davidstern. Gegründet habe sie das Zentrum mitten in den "Baseballschlägerjahren", wie sie sagt. "Krasse Zeiten" seien das damals gewesen, rechtsextreme Jugendliche, die Jagd auf Migranten, Punks und Obdachlose machten. Vieles habe sich verbessert seitdem. Doch in letzter Zeit fühlt sie sich manchmal wieder in die Neunzigerjahre zurückversetzt, sagt sie. Der Ton werde rauer, Gewalt eskaliere häufiger.
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Wenn man an diesem Freitagnachmittag im September durch Sachsendorf spaziert, sieht man weder vermüllte Straßen noch Teenager auf der Suche nach Ärger. Ein ruhiges, gepflegtes Viertel, so scheint es – bis man mit Jugendlichen spricht. Sie sind es, die die Namen derjenigen kennen, vor denen man sich in Acht nehmen muss, und die sich den Ausgang von Schlägereien erzählen, als wären es die Ergebnisse von Fußballspielen.
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An der nahen Tramhaltestelle sitzen zwei Jugendliche ... Sie erzählen, dass sie beide in Syrien geboren wurden. Sie sind 15 und 17 Jahre alt. Der Ältere kam erst vor einem Jahr nach Deutschland, der Jüngere als Kleinkind. "Wir verstehen uns mit allen. Tschetschenen, Deutsche, Afghanen, Syrer, das ist uns egal", sagt der Jüngere, der selbst auf die Sachsendorfer Oberschule geht. Die Aufregung kann er nicht verstehen – nur weil die Polizei sie ab und zu besuche? Rund 43 Prozent der Jugendlichen an der Oberschule haben einen Migrationshintergrund. Verglichen mit Vierteln in Stuttgart, Frankfurt oder Berlin ist das eigentlich nicht viel. Für manche in Sachsendorf aber zu viel.
Kaum fünfzig Meter weiter, auf der anderen Straßenseite, sitzen drei Rentner vor dem Bäcker und trinken Kaffee. Ein Mann und zwei Frauen. Auch sie wollen ihre Namen nicht in der Zeitung lesen. Sie wohnen erst seit vergangenem Jahr im Stadtteil. Insgesamt fühlten sie sich wohl – zumindest in ihrer Platte, weil es da "nicht so viele Ausländer" gebe. Nach Anbruch der Dunkelheit gingen sie trotzdem nicht mehr vor die Tür. Zu gefährlich sei das. Wovor genau sie eigentlich Angst haben, können sie nicht sagen. Aber man lese ja so einiges. Der Zusammenhalt, den es zu DDR-Zeiten noch gegeben habe, der sei schon lange verschwunden.
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Das brandenburgische Bildungsministerium allerdings hat dem bereits eine Absage erteilt: Schüler dürften nicht aufgrund von Herkunft, Nationalität oder Sprache benachteiligt werden. Bürgermeister Schick teilt der ZEIT dazu schriftlich mit: "Gesetze, die dies angeblich nicht zulassen, kann man ändern."
Auch über eine Herabsetzung der Strafmündigkeit und eine härtere Abschiebepolitik müsse man "diskutieren", findet Schick, etwa die Abschiebung von Familien. Bisher würden Abschiebungen von einzelnen Familienmitgliedern oft verhindert, wenn dadurch Familien auseinandergerissen würden. Alaows von Pro Asyl sagt: "Das Recht auf Familie ist ein Grundrecht. Das Grundgesetz steht hier über anderen Gesetzen."
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Katzmarek ist einer der wenigen, die auf die Anfrage der ZEIT offen reagierten. Vertreter der muslimischen Community oder von Geflüchteten wollten ebenso wenig reden wie Schulleiter oder wie der Bürgermeister Schick, der beteuerte, keinen freien Termin im Kalender zu haben, um sich zu treffen – aber Fragen per Mail beantwortete. Viele geben an, Angst um das Image von Cottbus zu haben.
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Mehr Kinder und Jugendliche mit Gewalterfahrungen und ohne Halt auf engem Raum, mehr abgestumpfte oder überforderte Eltern – und weniger Sozialarbeit: Das scheint, etwas vereinfacht, in Cottbus-Sachsendorf für einen untragbaren Zustand gesorgt zu haben. Angst vor Spaziergängen, wenn es dunkel wird, Eingangskontrollen am Schultor.
Auf der Wiese ohne Fußballtore möchte einer der Sozialarbeiter dem Reporter noch eine Frage stellen. Er zögert kurz, dann fragt er doch: "Warum sind Sie erst jetzt gekommen?"