Anmerkung:
ich nehme dieses Zitat nur als Aufhänger und Beispiel für ein Bewertungsmuster und dessen mögliche Folgen. Das heißt nicht, dass die daraus gefolgerten Einstellungen auf den Zitierten zutreffen, oder dass er die nachfolgend in Anführungszeichen (" ") gesetzten Sätze gesagt oder vertreten hätte. Es geht mir lediglich darum aufzeigen, warum ich diese im Zitat geäußerte These für falsch halte. Falsch in Bezug auf den angemessenen Umgang mit Mitmenschen, auch wenn es für das eigene Selbstwertgefühl und eventuell auch persönlichen Erfolg vorteilhaft sein kann.
Den letzten Satz interpretiere ich nun so, dass man von anderen nicht nur nicht (nie) mehr erwarten sollte, als von sich selbst, sondern auch nicht weniger.
Die "fröhliche These" scheint also davon auszugehen, dass alle Menschen auf allen Gebieten das gleiche Leistungsvermögen aufweisen, solange nicht klar sichtbare kausale Gründe (Rollstuhl) für eine Minderleistung vorliegen.
Das scheint mir doch eine sehr simplifizierte Weltsicht, die die eigene Person als Maß aller Dinge nimmt.
Insbesondere wird natürlich eigenes Versagen auf einem Gebiet dadurch relativiert, dass man erklärt, das wäre nicht so wichtig : "Was ich nicht hinkriege, muss man nicht hinkriegen"
Eigene Erfolge jedoch als für jeden schaffbar erklärt: "Ich hab's ja auch geschafft..."
Damit kann ein Dünner oder Dicker, der abgenommen hat, allen Dicken erklären, dass es doch geht, er sei der Beweis, alles andere wären Ausreden. Der gleiche Dünne hat vielleicht Schwierigkeiten, sein Temperament in sozialen Situationen zu zügeln und erklärt dann, das ginge halt nicht oder sei nicht so wichtig.
Jemand der studiert hat und/oder einen guten Job, kann dem HartzIV-Empfänger erklären, er solle sich nicht so anstellen, wenn er wollte, ginge es, Beweis: die eigene Person.
Gerne werden auch außergewöhnliche Leistungen (z.B. schlechter Hauptschulabschluss und nun Dr. der Physik) als Beispiel des grundsätzlich Machbaren aufgeführt, um den anderen zu "motivieren". Leute, denen das allerdings tatsächlich nicht möglich ist, bekommen dann zusätzlich zu dem sachlichen Versagen auch noch eine Schuld für das eigene Versagen aufgebürdet. Ein Hauptproblem der "Positiv Denken"-Ideologie.
Umgekehrt werden Leistungen, die andere bringen, zu denen man selbst nicht fähig war, als "unnötig" abgewertet.
Das ist IMO der Nährboden, auf dem auch Unverständnis und Diskriminierung von benachteiligten Minderheiten wächst.
Beim berühmten Beinbruch und eventuell auch beim Rollstuhlfahrer, sieht man noch ein, dass der nicht rennen kann.
Bei einem psychischen Kranken sieht man das von außen nicht.
Dann versucht man vielleicht, den Zustand des Gegenübers aus der eigenen Erfahrungswelt zu bewerten:
"Depression? - Ja, ich war auch schon mal melancholisch, da muss man sich zusammenreisen"
"PTBS? - Ja, mich haben Dinge auch schon mal länger verfolgt, aber das ist doch schon so lange her, mal muss gut sein, komm mal drüber weg."
"Hunger? - Ja, ich hab auch schon mal das Frühstück vergessen"
"Arm? - Ja, mir hat Vati auch schon mal den Geldhahn zugedreht, weil ich seinen Porsche zu Schrott gefahren habe"
Auch die Resilienz, d.h. die psychische Widerstandsfähigkeit, ist nicht bei allen Menschen gleich stark ausgeprägt.
D.h. daraus, dass man es selbst geschafft hat, schwierige Lebensumstände zu meistern und unbeschadet zu überstehen, kann man nicht schließen, dass ein anderer in gleicher Weise in der Lage sei.
Es stellt sich also IMO die Frage, auf welcher Wissensbasis man in obiger These bestimmt, was "Ausreden" sind und was zulässige Gründe, die Anforderungen runterzurechnen.
Natürlich gibt es Leute, die sich mit ihren Glaubenssätzen selbst im Weg stehen, denen kann man eventuell helfen, zu erkennen, das bestimmte Annahmen über sich selbst oder die Welt nicht richtig sind.
Das setzt aber voraus, dass man zuerst mal offen zuhört und sich die Sache genau anschaut, bevor man sein Urteil trifft bzw. seine eigene Erfahrungswelt überstülpt.
Die volkstümlich sehr beliebte Bootcamp-Psychologie scheint mir dagegen eher geeignet, Widerstände oder Rückzug zu fördern.