Hi,
Gerd Antes, Professor an der Medizinischen Universität Freiburg, Experte für Biometrie und Statistik und ehemaliger Leiter des Cochrane Zentrum Deutschland, im Interview mit dem Focus:
Wir wissen nicht, was wirklich passiert. Immer noch nicht. Gerd Antes kritisiert: Was die Datenlage angeht, sind wir keinen Schritt weiter als im Frühjahr. Seine Forderung: Deutschland braucht eine interdisziplinäre Task Force statt der Fokussierung auf einzelne Virologen.Schon kurz nach Beginn der Corona-Krise forderte Antes: Wir brauchen bessere Daten, um fundiert entscheiden zu können, welche Maßnahmen funktionieren und welche nicht. Was ist seither passiert? Praktisch nichts, kritisiert der Professor der Uniklinik Freiburg.FOCUS Online: Herr Antes, Angela Merkel und die Bundesländer haben Obergrenzen für Gäste auf Feiern beschlossen. Was wird das in Ihren Augen bringen?
Gerd Antes: Man weiß es nicht. Das sehen wir sehr deutlich im internationalen Ländervergleich. Dort, wo es restriktive Maßnahmen gab, sehen die Zahlen vielerorten schlechter aus als bei uns. Gleichzeitig ist in den Ländern, in denen liberaler vorgegangen wurde, nicht das Unglück eingetreten, das vorhergesagt wurde.
Die Einschränkungen sind natürlich ein Faktor. Aber sie sind so eng verwoben mit den Bedingungen, die am jeweiligen Ort herrschen, dass das Gesamtpaket schwer einzuschätzen ist. Bisher ist es niemandem gelungen, das sauber unter Kontrolle zu halten.Sie halten die Knackpunkte von 35 oder 50 Inzidenzen also für willkürlich?
Antes: Die Zahlen haben alle ein Dilemma. Um sie politisch umsetzen zu können, muss man Grenzen definieren. Gleichzeitig ist das irritierend und damit kontraproduktiv, weil sie von der Sachlage her keine Begründung haben. 34 oder 51 hätten die gleiche Begründung bzw. genauso wenig.
Es gibt zwei Komponenten: Das eine ist die wissenschaftliche Einschätzung der Infektionsketten. Das andere ist die Logistik. Das heißt, ob das Gesundheitsamt die 35 Infektion pro 100.000 Einwohner noch nachverfolgen kann oder ob es dadurch in massive logistische Probleme gerät.Sie sagten, wir trauen uns vieles nicht. Und forderten auch bereits, wir müssten öfter kontrolliert an die Grenzen gehen. Wo ganz konkret?
Gegenwärtig macht das fast jede Schule. Wenn Schüler und Lehrer gemeinsam Unterricht haben, setzen sie sich einem Risiko aus.
Was wir jetzt bräuchten, ist eine Übersicht: Was passiert in den Schulen, in denen Kinder ab sechs Jahren eine Maske tragen? Was, wenn sie es ab der fünften Klasse tun usw. Das müssten wir beispielsweise über einen Monat oder auch länger dokumentieren – eine klassische, gut strukturierte Beobachtungsstudie. Wir dürfen natürlich niemanden wissentlich gefährden und Kinder absichtlich einem Risiko aussetzen. Aber dort, wo sie jetzt sowieso ohne Maske sitzen, können wir beobachten, was passiert. Man muss es konsequent angehen und darf nicht die Monate verstreichen lassen nach dem Motto „es ist eh alles so schwierig“.
Ab und zu muss man sich etwas trauen, weil man sonst keine neuen Erkenntnisse gewinnt.
Paradox und ein großes Problem: Die Erkenntnis wäre viel leichter, wenn die Lage schrecklicher wäre.Was wiederum fatal wäre…
Hätten wir mehr Infektionen, hätten wir mehr Erfahrungen. Wenn ich bei so wenigen Fällen, wie momentan in Deutschland, so viel teste, ist die Rate der falsch-positiven Tests zwangsläufig hoch. Erkenntnistheoretisch wären also viele Infizierte gut, von der Lage her selbstverständlich sehr negativ und schlimmstenfalls eine Katastrophe. Dieser Widerspruch spielt bei allem mit.Sie kritisierten auch bereits, dass wir immer noch so im Nebel stochern wie im Frühjahr.
Ja, wir sind überhaupt nicht weitergekommen. Schlimmer noch, es wird konsequent vermieden oder viel zu langsam begonnen, darüber nachzudenken, wie wir zu besseren Daten gelangen. Das ist mir völlig unverständlich! Wenn wir gleichzeitig dreistellige Milliardenbeträge, also Steuergelder, ausgeben, um die Schäden zu begrenzen, warum geben wir nicht auch hohe Summen dafür aus, um das Verstehen des gegenwärtigen Geschehens massiv zu verbessern?So wie es beispielsweise für die Anstiege in München oder Hamburg keine gesicherten Erklärungen gab.
Richtig, es gibt immer wieder Erklärungsmodi. Gerade hat man sich hier auf die Privatfeiern eingeschossen und auf Superspreader-Events. Ich habe noch keine überzeugenden Daten gesehen, dass es wirklich so ist, weil die Daten nicht systematisch erfasst werden.
Das ist aktuell ein Dauerfehler: Man sieht etwas in den Daten und bastelt sich dazu eine Erklärung. Diese sind alle völlig ungeeignet, um im Vorfeld damit zu arbeiten und etwas zu verhindern.Sehen Sie eine Teststrategie, um einen zweiten Lockdown zu verhindern?
Antes: Nein, es ist auch das falsche Ziel. Wir können den Lockdown so weit wie möglich verhindern, ich würde sagen, ein bisschen verhindern, und genau das muss das Ziel sein. Entscheidend ist: Wir werden mit keiner einzelnen Maßnahme eine hohe Wirksamkeit erreichen. Wir müssen die Summe der Maßnahmen betrachten, um die Balance zu halten. Was in den nächsten Monaten kommt, ist leider pure Spekulation.Und es bleibt abzuwarten, ob wir die 19.000 Neuinfektionen pro Tag erreichen, die Frau Merkel ins Spiel gebracht hat.
Diese Zahl ist als solche natürlich grober Unfug. Das ist mechanistisches Hochrechnen von exponentiellem Wachstum, wenn sich nichts ändert, wenn wir die Zahlen von heute so weiterlaufen lassen. Aber alle diese Modellrechnungen erweisen sich regelmäßig als falsch, weil sich auf dem Weg dorthin praktisch alles ändern kann. Das fällt für mich in die Kategorie schlechte Risikokommunikation.Welche Zahlen schauen Sie sich denn an?
Antes: Ich schaue auf Größenordnungen. Völlig irrelevant ist, ob es gestern 1740 Neuinfizierte waren und am Vortag 50 mehr oder weniger. Das Starren auf absolute Zahlen ist ziemlich sinnlos. Gerade im Ländervergleich. Denn wir müssen das ja im Verhältnis zur Bevölkerungszahl sehen. Ich schaue immer situationsangepasst.Das heißt, wir brauchen mehr Kontext für alle Zahlen?
Ja, und vor allem sind diese Drohungen mit Frankreich oder Spanien, die Merkel und Minister aussprechen, völlig ungeeignet. Denn wir hatten vor fünf Monaten das Gleiche, kamen jedoch besser davon. Nur haben wir daraus nicht gelernt, es zu erklären. Es gab Erklärungsversuche, warum wir es besser gemacht haben als diese Länder und damals vor allem Italien. Etwa, dass wir früher reagieren konnten. Ich glaube nicht, dass das der einzige Grund ist, sondern noch viel mehr dahintersteckt, was wir immer noch nicht begreifen. Zudem ist in den Ländern einiges falsch gemacht worden, was kaum einer auszusprechen wagt.
Nämlich?
Die Krankenhäuser selbst sind Teil der Täterschaft. Hygienisch sind sie schlechter aufgestellt, sie haben Probleme mit Antibiotikaresistenzen, weil sie sehr viel mit Antibiotika behandeln. In Italien, und wohl auch in Spanien, wurde schon vor Corona das Gesundheitssystem kaputtgespart.Eher unsortierten Aktionismus, wie Sie schon kritisiert haben.
Genau. Der Satz: ‚Corona ist die Lupe, die alle Defizite, die es schon gab, noch deutlicher erscheinen lässt‘ ist leider wahr. Der gilt für die Wissenschaft ebenso. Wir haben momentan weltweit eine unglaubliche Anzahl an Studien zu Corona laufen. Wenn man aber auf die Qualität schaut, sieht es oft erschreckend aus. Und zum großen Teil geboren aus dem Egoismus des Wissenschaftsbetriebs.Sie meinen, jeder nutzt jetzt also die Gelegenheit?
Es ist eine wilde Mischung aus Etwas gegen die Bedrohung tun wollen einerseits, anderseits aber auch den schädlichen Bedingungen des Wissenschaftsbetriebs zu gehorchen – schnell an Fördergelder zu kommen oder einen Medienplatz zu ergattern. Die Egoismen spielen verrückt. Dann mischt noch die Politik mit. Trump etwa weist die FDA oder die CDC an, doch nicht mehr so rigide zu sein. Putin lässt bei der Impfstudie ganze Prüfphasen überspringen. Deutschland bringt kaum Patienten in die unbedingt notwendigen klinischen Studien ein. Ein breites Versagen auf der Wissenschaftsseite.
Außerdem gibt es bei uns keine übergeordnete interdisziplinäre Task Force. Stattdessen erleben wir eine übertriebene Fokussierung auf wenige Vertreter der Virologie. Dabei gibt es noch ganz andere Fachrichtungen, die extrem relevant sind wie Immunologie, Hygiene oder Epidemiologie, die praktisch jedoch kaum auftauchen. Ganz zu schweigen von Sozial- und Kommunikationswissenschaften, die für die Bewältigung der Krise genauso wichtig sind.https://www.focus.de/gesundheit/coro..._12496809.htmlJa, die Virologen sind für viele zu den Erklärern der Nation geworden.
Sie liefern der Politik das Alibi, sich nicht ernsthaft allen wissenschaftlichen Herausforderungen zu stellen, die wir vorher besprochen haben. Die Deutungshoheit durch Virologen statt der Forderung nach einer solchen interdisziplinären Task Force dient der Sache nicht. Dazu wäre auch die Verhaltensforschung ganz wichtig. Denn die Menschen, die aktuell auf die Straße gehen und sich übergangen fühlen, müssen ernst genommen werden. Auch das muss professionell und auf Wissen aufbauend erfolgen.
Gruß
Alef
Lauterbach ist gegen innerdeutsche Reisebeschränkungen:
https://www.zeit.de/entdecken/reisen...lauterbach-spd...Karl Lauterbach hält nichts von innerdeutschen Reisebeschränkungen für Menschen aus inländischen Corona-Hotspots. "Ich bin persönlich nicht davon überzeugt, dass uns dies weiterbringt", sagte der Gesundheitspolitiker der SPD im ZDF-Morgenmagazin zum Vorgehen Schleswig-Holsteins – dort wurden bereits Reisebeschränkungen für Menschen aus deutschen Landkreisen mit erhöhter Infektionszahl erlassen.
"Demnächst" werde es wohl sehr viele Kreise geben, wo die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz über 50 liege, sagte Lauterbach. Die Regel werde dann kaum noch sinnvoll anzuwenden sein, weil es unübersichtlich werde. ...
Ich habe kein Problem mit Impfungen, muss aber schon zugeben das mir die mRNA (Curevac) oder Affen-Adenovirus (AstraZeneca/Oxford) Varianten nicht geheuer sind. Vielleicht bin ich da nicht rational, aber wenn in Deutschland nichts anderes zugelassen wird, dann lass ich mich im Ausland impfen.
Ein Kernsatz für mich, der das ein Dilemma auf den Punkt bringt:
Seine an anderer Stelle gemachte Aussage zu der Lage in den Gesundheitsämtern kann ich bestätigen, ein Kumpel arbeitet dort. Die sind heillos überfordert. Viele müssen nach qualitativ fragwürdigen Schulungen im Schnellverfahren nun entscheiden wer in Quarantäne muss etc. und wer nicht. Dazu Personalmangel....Antes: Hätten wir mehr Infektionen, hätten wir mehr Erfahrungen. Wenn ich bei so wenigen Fällen, wie momentan in Deutschland, so viel teste, ist die Rate der falsch-positiven Tests zwangsläufig hoch. Erkenntnistheoretisch wären also viele Infizierte gut, von der Lage her selbstverständlich sehr negativ und schlimmstenfalls eine Katastrophe. Dieser Widerspruch spielt bei allem mit....
Viele städtischen Mitarbeiter haben keine Bock nun Corona-Screening zu betreiben. Ist ihnen zu anstrengend und zu nervig.
Badeparty in Wuhan?
https://www.noz.de/deutschland-welt/...-in-wasserpark
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