Hallo,

die Darstellung, dass Kickboxen in Japan als Antwort auf die Niederlage von K. Kurosaki (geb. 1930) gegen einen Thaiboxer „erfunden“ wurde, ist problematisch. Wenn es nicht um das Wort „Kickboxen“ allein gehen soll, sondern um die Praxis, mit Boxhandschuhen unter Einbeziehung von Hand- und Beinschlägen gegeneinander anzutreten, dann steht fest, dass es innerhalb der Karate-Welt Japans bereits Jahrzehnte zuvor entsprechende Entwicklungen gab.

Den ersten Karate-Schülern auf den japanischen Hauptinseln war das europäische Boxen mit Boxhandschuhen durchaus bekannt. Denn 1921 wurde in Tōkyō der „Japanische Boxklub“ (Nippon Kentō Kurabu) gegründet. Erst im Folgejahr kam der Karate-Pionier G. Funakoshi (1868–1957) nach Tōkyō und begann Schritt für Schritt Karate in größerem Umfang zu unterrichten. U. a. gab es dann neben universitären Boxklubs seit 1924 universitäre Karate-Klubs. Einzelne Mitglieder dieser Klubs tauschten sich teilweise untereinander aus, indem die Boxer den Karateka ihre Boxhandschuhe liehen, um so trainieren und sich ausprobieren zu können, d. h. Übungskämpfe Karate gegen Boxen mit Boxhandschuhen.

Profiboxkämpfe waren im Japan der 1930er Jahre keine Seltenheit mehr und wurden bereits seit 1922 auch mit nichtjapanischen Boxern beworben und veranstaltet. Hier mal als Beispiel die Kampfliste von J. Eagle, der 1936 erstmals in Japan boxte und dabei anfangs recht erfolgreich war:

www.boxrec.com/en/proboxer/175365

Mitten in einem Zeitungsartikel über die Gründung des „Großjapanischen Bundes für Studenten-Karate“ von 1936 wurde eine fette Werbeanzeige für den zweiten Boxkampf J. Eagles gegen einen japanischen Boxer abgedruckt. Karate und Boxen standen also in Japan von Anfang an auch in Konkurrenz zueinander, sowohl was gegenseitiges Austesten z. B. durch Mitglieder universitärer Box- und Karate-Klubs betraf als auch in der öffentlichen Wahrnehmung.

Eine Übernahme von Boxhandschuhen in das Karate-Training war somit nur noch folgerichtig, jedenfalls in den Augen einiger früher Karate-Schüler in Japan. Im Karate-Klub der Kaiserlichen Universität zu Tōkyō, der bis dahin unter der technischen Leitung von G. Funakoshi stand, fand dann 1928 der erste Karate-Wettkampf mit Boxhandschuhen und weiterer Schutzausrüstung statt. G. Funakoshi hatte sich zwar noch Anfang der 1920er Jahre für eine Einführung oder wenigstens ein Untersuchen von Schutzausrüstung einschließlich Boxhandschuhen ausgesprochen, diesen Gedanken jedoch bis 1928 ganz verworfen. Er trennte sich von diesem Karate-Klub, aufgrund seines Festhaltens an Wettkämpfen mit Schutzausrüstung. Mehr dazu schreibe ich in meinem Band II (S. S. 209 ff.).

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass nicht nur eine Übernahme vom Boxen ins Karate stattfand (Boxhandschuhe), sondern etwa auch der erfolgreiche japanische Boxer T. Horiguchi (1914–1950, genannt „der Kolben“) unter Karate-Lehrern wie dem Okinawaner C. Motobu (1870–1944) lernte, um sein Boxen mit Karate-Elementen zu verbessern. Er übernahm zudem einen in der damaligen Karate-Welt aufgekommenen Ausdruck, „Kensei“ („Faustweiser“) als einen seiner Kampfnamen (www.boxrec.com/en/proboxer/48352).

Daneben entwickelten sich konkrete Schulen bzw. Stile, deren Gründer von Karate-Pionieren lernten und später Boxhandschuhe in ihr Programm einführten. T. Yamada (1905–1967) schuf beispielsweise das sogenannte „Nihon Kenpō Karate-Dō“, nachdem er bei C. Motobu und G. Funakoshi jeweils deren Karate in Grundzügen gelernt hatte. 1959 machte er sein Konzept von Karate-Wettkämpfen mit Boxhandschuhen öffentlich, das u. a. „Gurobu-Karate“ („Glove-Karate“, d. h. „Boxhandschuh-Karate“) genannt, von einigen Karate-Lehrmeistern aber gerügt wurde. Auch das geschah also noch vor 1963, dem Jahr der erwähnten Gegenüberstellung von Thai-Boxern gegen Karateka.

Obwohl nun im „Nihon Kenpō Karate-Dō“ mit Boxhandschuhen geübt und gewettkämpft wird, werden weiterhin die nackten Körperwaffen wie Faust, Handkante oder Schienbein abgehärtet, wie hier von Y. Suzuki, einem modernen Vertreter, gezeigt:

https://www.youtube.com/watch?v=ih05IfnL54Q

https://www.youtube.com/watch?v=QOQlhs8mJ9g

Daraus wird ersichtlich, dass Nihon Kenpō Karate-Dō kein reines Kickboxen ist. Vielmehr enthält es eine Art von Kickboxen neben anderen Übungsformen wie herkömmlichen Solo-Kata und Abhärtung.

Eine andere ab 1932 zunächst „Dai Nippon Kenpō“ genannte Richtung wurde von dem Japaner M. Sawayama (1906–1977) geschaffen. Er wiederum lernte zuvor Karate vor allem von K. Mabuni (1889–1952), aber auch von C. Miyagi (1888–1953), ebenfalls zwei bekannten Karate-Pionieren in Japan. Danach verwarf er die im Karate üblichen Solo-Kata und schuf ab 1934 etwas, das er „Ran-Geiko“ („ungeordnete Übung“) nannte. Dies waren freie Kampfübungen mit Schutzausrüstung, eben auch Boxhandschuhen. 1939 fand der erste größere Wettkampf dieser Richtung statt. Ironischerweise wollte er sich von den Kata lösen, schuf aber für sein neues Lehrgebäude viele Partner-Kata …

Schließlich kann auch die 1945 gegründete Übungsstätte „Kanbukan“ (später „Renbukan“) des koreanischen Karate-Lehrers H. B. Yun (1923–2000) angeführt werden. Dieser lernte wohl von K. Mabuni und K. Tōyama (1888–1966) Karate. Mitglieder dieser Übungsstätte entwickelten eigene Vorstellungen von Karate-Kämpfen mit Schutzausrüstung. Deren erster „gesamtjapanischer“ Karate-Wettkampf nach entsprechenden Regeln (Schutzausrüstung einschließlich Boxhandschuhen) fand 1954 statt. Das beigefügte Foto stammt vom zweiten Wettkampf des Renbukan, also ebenfalls vor 1963. Darauf zu erkennen sind u. a. die genutzten Boxhandschuhe.

1955 Renbukai www.gibukai.de.jpg

All diese Entwicklungen zeigen, dass „Kickboxen“, auch wenn es nicht so genannt wurde, als Praxis bereits vor 1963 in Japan bekannt war.

Ach so, was Geschichte, Lehre und Fachbegriffe des Karate betrifft, ist J. Enkamp leider keine besonders verlässliche Anlaufstelle …

Grüße,

Henning Wittwer