Zitat:
Im Widerspruch hierzu stehen Bemühungen verschiedener Interessengruppen, nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Behandlungsverfahren in der Öffentlichkeit einzuführen und gesetzlich zu verankern. Unterstützt wird diese Entwicklung durch
Krankenkassen, die, um die Gunst ihrer Klienten ringend, die Kosten für derartige Methoden zu Lasten der wissenschaftlich begründeten Therapie erstatten, Regelungen, die von einigen Kassenärztlichen Vereinigungen geduldet werden,
Ärzte, die sich dieser Verfahren annehmen und dabei den Boden ihrer wissenschaftlich geprägten Ausbildung unbewußt oder bewußt verlassen,
Politiker, die aus Furcht vor dem Verlust von Wählerstimmen diese Behandlungsverfahren fördern und für hoffähig erklären (Sonderstellung der "besonderen" Therapierichtungen im Arzneimittelgesetz, sog. Binnenanerkennung, Sozialgesetzbuch V, § 135 Abs. 1), aus mangelnder Sachkenntnis diesen Methoden vertrauen oder aus Kostenüberlegungen auf geringere Ausgaben hoffen,
und das Marketing der entsprechenden pharmazeutischen Unternehmer, die ein direktes ökonomisches Interesse am Umsatz "alternativer" Therapeutika haben.
Die Arzneimittelkommission ist sich bewußt, daß "alternative" therapeutische Verfahren zahlreiche Anhänger in der Bevölkerung haben. Dies zeigen auch Umfragen, die aber eher den von vielfältigen Interessen beeinflußten Zeitgeist erkennen lassen als die medizinische Bedeutung dieser Verfahren beweisen. Die zunehmende Akzeptanz "alternativer" Heilmethoden in der Bevölkerung gleichzusetzen mit einer neu erworbenen Mündigkeit würde bedeuten, die Popularität zur Bemessungsgrundlage der Mündigkeit zu machen.
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Mahnungen
Die Politik mißachtet Mahnungen aus Wissenschaft und verfaßter Ärzteschaft. In der Vergangenheit hat es nicht an sachlich begründeten kritischen Stellungnahmen zu den sogenannten alternativen Therapierichtungen gefehlt, wie zum Beispiel die "Marburger Erklärung" von 16 Professoren als auch von wissenschaftlichen Gesellschaften, so
der Deutschen Gesellschaft für Pharmakologie und Toxikologie,
der Kommission für klinische Pharmakologie der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, der Deutschen Krebsgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie und der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie mit einer gemeinsamen Stellungnahme,
der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde,
der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), des Dachverbandes aller medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften
sowie von Gremien der verfaßten Ärzteschaft wie
des Deutschen Ärztetages und
des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer.
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Beispiel Homöopathie
Die Homöopathie ist die heute am meisten verbreitete Behandlungsrichtung außerhalb der wissenschaftlichen Medizin. Auch wenn in ihre Konzepte und Erklärungen Aspekte moderner physikalischer Theorien, wie zum Beispiel der Quantentheorie, aufgenommen wurden, basiert sie auch heute noch auf den Vorstellungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts: auf dem Vitalismus (Krankheit und Heilung sind immaterielle Prozesse) und einer mit modernen biologischen Konzepten schwer kompatiblen Definition des Krankheitsbegriffs (Krankheiten sind Regulationsstörungen, wobei nicht zwischen Symptomen und Krankheit unterschieden wird). Nachprüfungen an Gesunden ergaben, daß homöopathische "Arzneimittel" die ihnen früher zugeschriebenen Symptome beziehungsweise Wirkungen ("Arzneimittelbilder") häufig gar nicht zeigen. Der mehrfach und kürzlich nochmals wiederholte Schlüsselversuch von Hahnemann mit Chinarinde war nicht zu reproduzieren.
Das derzeitige Aufleben der Homöopathie im Umfeld anderer "naturgerechter" Behandlungsverfahren ist nicht ohne Beispiel in der Geschichte. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die "Alternativmedizin" intensiv gefördert. In Berlin wurde ein Lehrauftrag für Homöopathie vergeben, in Stuttgart ein homöopathisches Krankenhaus, in Leipzig eine homöopathische Poliklinik gegründet. Das Rudolf-Heß-Krankenhaus in Dresden erhielt die Aufgabe, "Schul-" und Außenseitermedizin zu integrieren. Dort wurde unter anderem versucht, die Syphilis mit Saftfasten zu kurieren. Es sollte eine "Neue Deutsche Heilkunde" etabliert werden. Die vom Reichsgesundheitsamt verordnete Testung zahlreicher homöopathischer Verdünnungen verlief niederschmetternd, so daß die Homöopathen seinerzeit gegen die Fortführung der Untersuchungen beim Reichsgesundheitsführer intervenierten. Die Ergebnisse wurden bis heute nicht veröffentlicht. Die homöopathische "Forschung" stagnierte nach 1945 über 40 Jahre.
Sie bedient sich nunmehr bei der Deutung des Wirkungsmechanismus von bis zur Wirkstofffreiheit verdünnten homöopathischen Lösungen andernorts nicht reproduzierbarer Versuchsanordnungen oder physikalischer Thesen von der "Einführung des Wassergedächtnisses" bis hin zur Bemühung quantenphysikalischer Erklärungen. Alle derartigen Untersuchungen zum Wirkungsmechanismus sind hier, wie auch in der wissenschaftlichen Medizin, nicht geeignet, die therapeutische Wirksamkeit zu belegen.
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Komplementäre Therapie?
Einige Vertreter der Homöopathie oder anderer "besonderer" Therapierichtungen argumentieren, ihre Arzneimittel seien nur komplementär zur Unterstützung der Behandlung gedacht. Es erscheint nicht sehr überzeugend, einerseits bei ernsthaften Erkrankungen wie Tumorleiden und Infektionskrankheiten die Errungenschaften der modernen Medizin in Anspruch zu nehmen, andererseits aber deren Bedeutung zu relativieren. Da den wissenschaftlich begründeten und den allein von persönlichen Überzeugungen getragenen Behandlungsverfahren Paradigmen zugrunde liegen, die sich gegenseitig ausschließen, erscheint eine "ökumenische Gemeinschaft" beider undenkbar und alles Beschwören von "Gemeinsamkeit", "Ergänzung", "Komplementarität" oder "Erweiterung", wie zum Beispiel im Lannoye-Bericht, zwar politisch opportun, aber wissenschaftstheoretisch unhaltbar. Dies ist eigentlich auch eine originär von der Homöopathie vertretene Auffassung: "Es gibt nur zwei Haupt-Curarten: … die … homöopathische und … die … allöopathische. … nur wer beide nicht kennt, kann sich dem Wahne hingeben, daß sie sich je einander nähern könnten oder wohl gar sich vereinigen ließen, kann sich gar so lächerlich machen, nach Gefallen der Kranken, bald homöopathisch, bald allöopathisch in seinen Curen zu verfahren; dieß ist verbrecherischer Verrath an der göttlichen Homöopathie zu nennen!"
Wissenschaftliche Medizin und Paramedizin sind in ihren Konzepten unvereinbar. Dieser Aussage steht die Toleranz eines aufgeklärten Bürgers zum Beispiel verschiedenen Glaubensrichtungen gegenüber nicht entgegen. Die seitens der Politik eingeräumte Sonderstellung der besonderen Therapierichtungen entbehrt nicht nur jeder wissenschaftlichen Grundlage, sondern bedeutet außerdem, daß Wirksamkeit mit zweierlei Maß gemessen wird. Sie transferiert Konzepte des individuell oder staatlich praktizierten Wertepluralismus fälschlicherweise in die Bewertung der von wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten bestimmten modernen Arzneitherapie.
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Forderung
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft wendet sich mit dieser Aufforderung an Ärzte, Krankenkassen, Politiker und Patienten, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Medizin zu achten, Bemühungen um eine rational fundierte Therapie zu fördern und so Qualität und Bezahlbarkeit des Gesundheitswesens zu sichern. Eine solidarisch finanzierte Krankenbehandlung kann sich nur auf das nachweislich Wirksame stützen. Wollen Patienten wegen Befindlichkeitsstörungen oder aus anderen Beweggründen ergänzend mit alternativen Methoden behandelt werden, so ist das zu respektieren. Diese Kosten können aber nicht zu Lasten der Solidargemeinschaft gehen, weil diese sich zunehmend außerstande sehen wird, schon die Behandlung akut auftretender und schwerwiegender chronischer Erkrankungen noch hinreichend zu finanzieren. Auch Aus- und Weiterbildung müssen sich an den Kriterien einer wissenschaftlichen Medizin orientieren.