
Zitat von
Cord_Elsner
Naja, das würde ich nicht so unterschreiben - und liefere gleich mal eine Quelle nach:
Complete Wing Chun - The Definitive Guide to Wing Chun's History and Traditions (Robert Chu, etc.)
Complete Wing Chun: The Definitive Guide to Wing Chun's History and Traditions (Tuttle Martial Arts): Robert Chu, Rene Ritchie, Y. Wu: 9780804831413: Englische Bücher
Dort steht z.B. zum Yip Man Stil auf Seite 15, letzter Absatz:
The Muk Yan Jong Set varies from 108 to 116 movements and from student to student. Typically, the sequence of the first sixty movements is performed virutally identically among each of Yip Man's students, whilst the remaining motions vary among the disciples.
Deutsche Übersetzung:
Die Holzpuppenform variiert von 108 bis 116 Bewegungen von Schüler zu Schüler. Typischerweise wird die Sequenz der ersten sechzig Bewegungen nahezu identisch von jedem Schüler Yip Man's ausgeführt, wohingegen die restlichen Bewegungen unter den Anhängern stark variieren.
Dazu steht dann auf Seite 15 weiter oben noch folgende Erklärung:
Typically, Yip Man would introduce the first two sections to a student, and the students would learn the rest of the set from their si hing (seniors). The Muk Yan Jong has the most variations in the system, and may be due to this manner of teaching.
Deutsche Übersetzung:
Typischerweise hat Yip Man die ersten zwei Sätze dem Schüler selbst gezeigt und die Schüler lernten dann den Rest der Form von den älteren Schülern (Sihing). Die Holzpuppenform ist die Form, die in den meisten Variationen des Systems existiert und die Ursache kann in dieser Art des Unterrichtens begründet sein.
Wenn stimmt, das Robert Chu zur Holzpuppen-Form des Yip Man *ing *un berichtet (und ich tendiere nach der Lektüre seines sehr kritischen und interessanten Buches dazu, seine Meinung zu teilen), hat Yip Man ähnlich unterrichtet, wie es heute in vielen *ing *un Schulen üblich ist.
Bedeutet: häufig zeigen die Schüler den Anfängern die ersten Bewegungen und der Lehrer kommt später hinzu und schleift die Feinheiten nach. Fehlen hingegen diese Korrekturen durch den Lehrer, bilden sich bereits in ein und derselben Schule unterschiedliche Formeninterpretationen heraus. Hab ich selbst hundertfach erlebt und ist ganz normal ...
Wenn zusätzlich stimmt, was man über Yip Man lesen kann, hat er selbst nur den "engsten Kreis" selbst unterrichtet - also eine Handvoll Schüler - und diese haben das System weiter an die "jüngeren Schüler" weiter gegeben. Selbst das wäre ja nicht großartig anders, als es heute ist. Ein Lehrer hat meistens Privatschüler, um die er sich sehr stark kümmert und diese geben dann das System hauptsächlich weiter, der Lehrer kreuzt dann und wann auf und korrigiert mal hier 'nen Winkel und da den Druck und das war's.
Wenn Yip Man noch der traditionell ausgerichtete Chinese aus hochherrschaftlicher Familie war, wie man so nachlesen kann, hat der bestimmt mehr "unterrichten lassen" als selbst "aktiv" unterrichtet. Und mit jedem einzelnen hat der bestimmt nicht exzessiv Chi Sao und Anwendungen gekurbelt. Man kann ja an allen Ecken und Enden nachlesen, wie im *ing *un früher "traditionell unterrichtet wurde." Yip Man hat vermutlich eher auf seinem geschnitzten Edelstuhl abhockt, sich eine Zigarette nach der anderen ins Portrait gerammt, als Sifu lecker teuren Tee geschlürft (den ihm seine devoten Schüler gereicht haben) und ab und zu den Schülern Korrekturen zugerufen und vom Stuhl aus hochherrschaftlich rumgefuchtelt.
Wenn Yip Man den Schülern lediglich die Anfänge der Holzpuppenform gezeigt hat, erklärt dies, warum die meisten Holzpuppenformen, die man heute sehen kann, sich am Anfang ähneln, beim Fortschreiten der Form aber völlig andere Verläufe nehmen oder sich nur noch in groben Zügen ähneln.
Wer also die "originale.....(unveränderte) Holzpuppenform" von Yip Man sucht, wird sie garantiert nie finden, da so etwas logischerweise nicht existiert bzw. existieren kann. Yip Man wird - wie jeder Sportler, der über Jahrzehnte sein Zeug trainiert - ziemlich sicher im Laufe seines Lebens sein *ing *un variiert haben, da er neue Ideen hatte oder seine Bewegungen an seine schwindende Kraft, nachlassende Dynamik, etc. anpassen musste. Schüler, die also zu unterschiedlichen Zeitperioden bei ihm lernten, werden also unterschiedliche "Zeitfenster" in Yip Mans *ing *un Verständnis mitbekommen haben und dürften sich demnach bereits nicht 1:1 ähneln.
Das beste Beispiel dafür ist ja Kernspecht selbst, der heute im Gegensatz zu vor 25 Jahren völlig geändertes WT macht. Alles sehr weich, soft und auf den ersten Eindruck schlaff.
Dazu habe ich in damaligen Privatstunden einen meiner früheren Lehrer befragt, der in der EWTO selbst in den PG-Graden graduiert war und über Jahrzehnte die Entwicklung der EWTO hautnah mitverfolgt hat, warum das WT in der EWTO so schlaff geworden sei.
Dazu sagte dieser, dass Kernspecht mal zu ihm in einer ruhigen Minute gesagt habe, er "könne 8 Stunden Power Chi Sao mit Privatschülern mit der Schulter nicht mehr aushalten, dafür sei er langsam doch zu alt." Weiter sagte mein damaliger Lehrer, dass Kernspecht ihn, Emin Boztepe, Tassos, Mannes, etc. früher hingegen ordentlich durch den Raum geschoben hat und nicht zu selten meinte, Power und Kraft wären unverzichtbar und ein MUSS im WT.
Nicht umsonst zeigen ja etliche Fotografien, dass Kernspecht von der eigenen Kraft ziemlich eingenommen, in den er gewichtestemmend herumposiert - sei es auf der Drückbank oder bizepszeigend. Man sieht Kernspecht ja nur allzu oft narzistisch, wie er mit > 60 Jahren noch seinen Oberkörper zeigt und seinen Bizeps präsentiert.
Jedenfalls meinte mein damaliger Lehrer auch noch, er hätte diese Wende im WT der EWTO auch noch hautnah miterlebt, wo plötzlich alles weich und geschmeidig wurde und fand diese Entwicklung nicht allzu toll. Als er mal in einer eigenen Privatstunde war, hat er wohl - wie früher, wie es ihm selbst beigebracht wurde - ordentlich Gas gegeben - und plötzlich verschwand bei seinem neuerdings weichgespülten Lehrer das ganze Weiche und der wurde wieder knallhart und kraftvoll, um sich überhaupt zur Wehr setzen zu können.
Man könnte durchaus vermuten, dass der ganzen EWTO eine Art kollektives Abschlaffen quasi "von oben" aus Altersgründen verordnet worden ist, weil der Chef höchstpersönlich nicht mehr so kann, wie er früher mal konnte, er so aber nach wie vor noch glänzen kann. Denn gegen einen dynamischen 20-Jährigen, der voller Kraft und Power steckt und innerlich brennt, hat man mit 60 einfach gar nichts mehr entgegen zu setzen und sollte das - Taoist der man ja laut 10. Grad offensichtlich ist - akzeptieren.
Wer vor 30 Jahren also noch relativ knackig WT in der EWTO gelernt hat, würde heute bei dem ganzen Weichgekurbel, Blitzdefence, Blitz-dies-Blitz-das, Chikung, Wellness die Inhalte der EWTO vermutlich nicht mehr wieder erkennen und sich doch sehr wundern.
Das mal als direkter Vergleich zwischen Entwicklung der EWTO damals und heute und der vermuteten ähnlichen Entwicklung bei Yip Man und seinen Trainingsinhalten.
Zurück übertragen auf Yip Man und seine Holzpuppenform ist die Variation in den Inhalten also völlig logisch und man sieht, es wiederholt sich in der Geschichte offensichtlich permanent. Je nach Alter, je nach Erfahrungsstand, etc. ändern sich Trainingsinhalte - quasi Frühjahr-Sommer-Herbst-Winter-*ing *un. Das ist alles völlig nachvollziehbar und liegt in der Natur des Menschen begründet.
Abschließend kann man ja - wie üblich - festhalten, dass man sich natürlich überhaupt nicht an solche traditionellen Formenabläufe halten muss. Jeder kann ja auf die Holzpuppe einhämmern, wie er will.