Die Situation ist akut. Immer mehr Krankenhäuser sind voll belegt.
Ich habe mit Kollegen gesprochen, die sagen, dass sie wahrscheinlich schon Ende dieser, Anfang nächster Woche mit der Triage beginnen müssen.
Das heißt: Wenn zwei, drei Patienten da sind, die an einen Behandlungsplatz oder ein Beatmungsgerät müssen, aber nur noch ein Bett frei ist, müssen die Ärzte entscheiden. Der Patient mit den besten Überlebenschancen bekommt das Bett. Das betrifft vordergründig Intensivbetten. Dort braucht es auch am meisten Personal. Die Betreuung von Intensivpatienten ist besonders anspruchsvoll. Betten und Maschinen haben wir ausreichend. Aber es fehlt an Personal.
Bisher haben wir immer versucht, Triage zu vermeiden, wir wollen das auch nicht. Aber nun ist die Lage in Sachsen extrem angespannt. Unbegrenzt Patienten in andere Regionen zu verlegen, wird nicht gelingen. ... Im Moment sind Verlegungen noch möglich. Dabei muss auch auf den Zustand des Patienten geschaut werden, es geht ja zum Teil um Entfernungen von mehreren Hundert Kilometern. ...
Es gibt Studien dazu, dass medizinisches Personal, das solche Entscheidungen schon einmal treffen musste, den Beruf eher verlässt. Man muss auch klarstellen: Eine Triage betrifft alle Patienten, die ein Intensivbett brauchen. Da wird nicht nach Corona-Patienten unterschieden, da geht es um alle. Wenn ein Patient mit einem Herzinfarkt oder einem Polytrauma kommt, hat er das Nachsehen. Das ist schrecklich. Dies muss den Menschen ebenso klar sein, die gerade an anderen Stellen auf Solidarität verzichten.
ZEIT ONLINE: Haben Sie schon mal so eine Situation erlebt?
Bodendieck: Nein, nicht annähernd. Ich kann mich dunkel an Szenarien in meiner Zeit als Medizinstudent in der DDR erinnern. Da wurde gesagt, dass nicht alle Patienten über 60 an die Dialyse kommen, weil es nicht genug Geräte gab. Das ist aber nicht vergleichbar mit der jetzigen Situation. Als Arzt in der DDR musste man mit Mangel umgehen. Jetzt ist der Mangel ein anderer. Wir haben zwar alle technischen Ressourcen zur Verfügung, aber das Personal fehlt. Das ist im Übrigen etwas, das nicht nur die Corona-Situation jetzt mit sich bringt, das beklagen wir schon lange.
ZEIT ONLINE: Warum ist die Lage in Sachsen erneut so eskaliert?
Bodendieck: Mir scheint, die Sachsen sind eher skeptisch, aus der Geschichte heraus besonders gegenüber staatlichen Regelungen, welche schnell als Bevormundung empfunden werden. Dann gibt es viele Regionen, vor allem im Ländlichen, da leben wenig junge Leute. Dort gibt es oft festgefahrene Meinungen und einen Nährboden für die Idee, dass man bevormundet wird, einem andere etwas Böses wollen. Da ist man auch schnell in einem Mehrheitsstrudel drin und es ist ganz schwer, als Einzelner seine Meinung zu ändern. Was ja etwas völlig Normales ist, seine Meinung auch mal zu ändern. Dies zu sagen, fällt aber umso schwerer, wenn hundert Menschen in der Umgebung gleicher Meinung sind. Das erlebe ich auch beim Impfen so.
Sie haben ihre eigene Wahrheit und da spielen soziale Netzwerke eine große Rolle, wo Lügen und Halbwahrheiten verbreitet werden. Ich bedauere das sehr.
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Das Beste wäre, wenn jetzt alle nach Hause gehen und sich einschließen, Entschuldigung, wenn ich das so sage. Aber die Menschen sollten wirklich erst mal keinen Kontakt zueinander haben und die Ansteckungen durchbrechen. Viele Mediziner und Wissenschaftler, auch ich, haben der Landesregierung empfohlen, dass es mindestens 60 Prozent Kontaktreduktion braucht. Aber die sehe ich, in dem was nun beschlossen wurde, nicht. ...
Es hätte nicht nur der Medizin, sondern auch der Wirtschaft nachhaltig besser getan, wenn wir mal zwei, drei Wochen richtig dichtgemacht hätten. Nun haben wir ein Dahinkleckern, ein Hinauszögern des Dramas.
ZEIT ONLINE: Einige Ärzte lehnen das Impfen ab. Kennen Sie viele solcher Beispiele?
Bodendieck: Leider finden sich auch in der Ärzteschaft seltsame Ansichten. Ich finde es fatal, wenn Ärztinnen und Ärzte sich nicht an wissenschaftliche Erkenntnisse halten. Es ist auch unsere Verantwortung als Ärztekammer, etwas dagegen zu unternehmen. Wir bieten Schulungen an, geben Impfnewsletter heraus. Wir haben schon mehrmals versucht, gegen Ärzte, die die Wissenschaft leugnen, vorzugehen, aber berufsrechtlich haben wir da nur ein nasses Pappschwert in der Hand. Wir haben einige Ärzte auch angezeigt, aber das ist alles im Sande verlaufen. Wir sind meist machtlos. Nur ein Beispiel:
In Ostsachsen gibt es einen Arzt, der hat ohne Maske Patienten getestet, sein Personal auch. Da wurde die Polizei gerufen. Der Arzt hat sich vor den Augen der Polizei ein Attest ausgestellt, dass er keine Maske bräuchte. Das ging dann bis zum Staatsanwalt, aber das und ähnliche Verfahren wurden eingestellt.
ZEIT ONLINE: Medizinisches Personal wird bedroht, auch bei Impfaktionen. Passiert so etwas immer häufiger?
Bodendieck: Solche Fälle nehmen deutlich zu.
Mir schreiben Kolleginnen und Kollegen, dass sie beschimpft werden, weil sie impfen, man droht ihnen deshalb mit Anzeigen. Ich höre in Notfallaufnahmen, in Praxen, dass medizinisches Personal sogar aufhört, weil die Bedrohungen und Aggressionen in dem Beruf zu viel werden.