Guten Morgen,
ich ziehe folgend eine Parallele zum Karate, um zu verdeutlichen, wo ich thematisch hin möchte. Nehmen wir einmal exemplarisch die Kata Naihanchi/Tekki-Shodan und eine Kata/Form an sich als die DNS einer Kampfkunst, also als Grundlage. Sozusagen der Kern - eine "kleinen Idee" (Wortspiel ^^) - eines Konzeptes oder aber Konzepten, um sich als normaler Mensch zu behaupten. Eine kurze und knackige Kata, die in Sachen Bunkai direkt über Drills zur durchaus tauglichen SV überführt werden kann. Soll heißen: Da sind überschaubare Konzepte (auch präventiver und taktischer Natur) drin, die Sinn machen. Für mich nach all den Jahren immer noch DIE Kata und Konzeptgeber, auch was die körperliche Fitness im Sinne von Cardio und Kontraktion angeht.
Nehmen wir die nun die Wing Chun Formen in den Vergleich: Ja, auch hier Konzepte, aber irgendwie habe ich immer das Gefühl (es mag subjektiv sein), dass es ein zu viel des Guten ist. Auch wenn diese Konzepte und Leitideen sich wiederholend. Die drei Formen am Stück mit Kime (Stilbruch, ich weiß) und du hast auch dein Cardio-Training. Jedoch fügt es sich für mich auch nach all den Jahrzehnten nicht zu einem roten Faden zusammen. Es ist zu viel an, was alles geht und keine echte Reduktion vorhanden.
Auf der anderen Seite erlebe ich kaum bis keine Wing-Chun-Cracks, die mit dieser Fülle an Ideen im Rahmen der Straße aus den Formen arbeiten, geschweige denn einen didaktischen roten Faden daraus entwickeln. Die Programme der EWTO waren und sind hier ein Quantensprung, aber sie gehen meiner Meinung nach nicht sauber und nachvollziehbar an den Formen (der DNS) entlang. Klar, erkennst du mit der Zeit dieses oder aber jenes Konzept - aber es ist nicht greifbar. Immer so diffus alles. Dann ist da noch was und dann kommt hier noch ein Impuls - achja, das ist auch nett, war mir gar nicht bewusst und schau mal dort...es hört ja nie auf und die Verästelung auf Subebenen beginnt.
Dann treffe ich auf Kwok (näher geht es ja nicht mehr an die Quelle der Ip Man Linie), der sagt knallhart "There are no sections in chi sao!" und bricht das ganze System konsequent runter auf drei Einstiege im Chi-Sao, ansonsten Erstkontakt und dann Kick (wenn überhaupt) mit KFS (letztlich old school WT) und "catch his head". Formen? Klar: 1. Form mit richtig Kraft und 2. Form mit Hüftschwung. 3. Form? "You will not need this." Hier gegenüber wieder die endlosen Programme der Verbände mit viel (sorry) Firlefanz, den kein Mensch braucht - ok, technisch vielleicht interessant aber ne. Reiner Kommerz in meinen Augen und kleiner Seitenhieb: Entwickelt von LT und KRK. Insofern eine tolle Sache, aber nicht im Sinne der Quelle. Damit eine Evolution? Weiterentwicklung? Oder Einengung? Weites Feld - ich lasse es so einmal stehen.
Was möchte ich damit sagen:
Ich merke nach all den Jahren, dass mich das Wing Chun nach wie vor fasziniert, aber dieser besondere Glanz und der Drang "noch mehr" zu erfahren, tiefer einzutauchen, der ist schlichtweg nicht mehr vorhanden. Irgendwie schade. Wing Chun eine Illusion? Hin und wieder flammt die alte Leidenschaft auf, aber ich erwische mich immer mehr und mehr, dass ich den Formen und dem Training an sich letztlich nichts mehr abgewinnen kann, sondern lieber mit KFS auf den Wandsack einschlage, die Holzpuppe quäle oder aber die Naihanchi fünf mal hintereinander laufe und/oder knackige Sinawalis auf den Sandsack loslasse, bis ich schnaufe, wie in Nilpferd. Das erfüllt mich mehr. Wenn sich die alte Truppe alle paar Wochen (alle gar auf dem direkten Weg in die 50 oder schon da drin) trifft, dann drillen wir Pitsche-Patsche-Drills aus den FMAs - immer und immer wieder. Wenn Chi-Sao, dann die Kreise aus dem Tai-Ji (*lach) oder aber das Kakie aus dem Karate, bis uns die Arme abfallen. Poon-Sao machen wir kaum mehr und wenn, dann komplett frei.
Rennen wir bei dem Wing Chun einem Hype nach, der uns in früheren Zeiten "gehyped" hat? Weil eben (ich mutmaße einmal) viele von uns aus anderen Kampfsparten kamen und irgendwie das Seelenheil im Wing Chun gesehen haben, nun aber merken: Da ist kein Seelenheil., sondern das WC ist letztlich eine Kampfkunst neben ganz vielen aus China, die eben entsprechend bei uns in Europa zur richtigen Zeit und mit den richtigen Mitteln "richtig" vermarktet wurde und uns gewissermaßen "gecatched" hat? Hätte sich Kernspecht damals für das Baguazhang entschieden und uns präsentiert, dann würden wir nun alle im Kreis laufen?! Garstiger Gedanke!
Was von "unserem" Wing Chun ist reine Suggestion, die uns über Jahre festhält und uns hier im Forum an die Gurgel gehen lässt? Wie es hier in der WC-Ecke zum Teil abgeht - auf allen Ebenen - das kenne ich bei keiner anderen Kampfkunst. Und auch über was wir uns letztlich in die Haare bekommen? Pillepalle zum größten Teil.
Passend dazu:
Ich hatte letzt eine Diskussion mit einem Mitstreiter aus alten WT Tagen, den ich zufällig in der Stadt getroffen habe. Es hat keine fünf Minuten gedauert, übliches blabla und dann "Machst du noch WT?" - "Nein." "Warum?" und es ging los! Am Ende hingen wir inhaltlich aneinander, was den ersten Satz der ersten Form angeht. Ob nach dem gekreuzten "Gaan" nach unten wieder nach oben gerollt oder aber geklappt wird. Was das ist? Das Konzept dahinter? Im Rückblick so typisch. Er hat seit Jahren eine eigene Schule und ich erlebte massiv diese typische Arroganz. Also nix gegen Überzeugung ist ja ok, aber dieses immer andere überzeugen zu wollen, wenn sie andere Sichtweisen haben - dies wird mir mehr und mehr fremd und kotzt mich auch an.
In diesem Sinne - wer ähnliche Gedanken hat und sich einklinken mag...
PS Bitte mit Humor lesen und nicht alle Aussagen auf die Goldwaage legen. Im Kern wisst ihr doch, um was mir geht...