Zitat:
... Es ist ganz schwierig, wenn nicht gar unmöglich, allein anhand von Sequenzen zu sagen, ob ein Virus gefährlich oder nicht gefährlich ist, ob es mehr oder weniger repliziert oder ob es mehr oder weniger Menschen krank macht. Das können wir nicht an den Genomen ablesen – von ganz, ganz seltenen Ausnahmen abgesehen. Und das ist hier nicht der Fall. Also wir können so etwas hier überhaupt nicht aus dem Erbgut ablesen.
Also, wir können uns darauf verlassen, dass das Virus mutiert. Das können wir jetzt schon beobachten. Da sind überall schon Mutationen im Genom, und wir können uns auch darauf verlassen, dass das Virus seine Eigenschaften dabei ändern wird. Wir können aber nicht sagen, ob es jetzt schon dazu gekommen ist. Denn dazu müssten wir das Virus unter kontrollierten Bedingungen eine Zeit lang studieren – also nicht unter Bedingungen von irgendwelchen Meldezahlen, die nicht kontrolliert sind, wo zum Teil sogar Kriterien geändert werden und wo sich klinische Situationen ändern – diese Feldbedingungen sind dafür nicht geeignet.
Wir müssen Laborbedingungen schaffen. Wir müssen also die Viren nehmen und sie phylogenetisch einordnen. Also wir müssen das Genom sequenzieren und sagen: An welcher Stelle des Stammbaums steht denn jetzt dieses Virus? Und wo sind eigentlich in diesem Genom Mutationen, die uns interessieren, die vielleicht was geändert haben könnten. Für so eine gröbere Einordnung also, dass man sagt: Aha, wo steht es im Stammbaum, ist das ein Virus, das vor kurzem entstanden ist? Oder ist das eins der Ursprungsdiversität, die am Anfang schon bestand? Also die Frage, ob es ein neues oder ein altes Virus ist und ob dann die neuen Viren gefährlicher oder harmloser sind als die alten.
Dazu muss man diese Viren im Labor untersuchen. Da muss man die Viren in Zellkultur isolieren und dann eben schauen, replizieren die unterschiedlich gut, sind die unterschiedlich empfindlich zum Beispiel gegen menschliche Antikörper aus Serum, sind die unterschiedlich empfindlich gegen Zytokine, gegen Interferon beispielsweise? Das sind Substanzen, die unsere Zellen ausschütten, um sich allgemein gegen Viren zu wehren. Und das können wir alles im Labor simulieren. Und das machen wir auch. Wir fangen jetzt in diesen Tagen hier bei uns im Labor damit an.
Wir haben schon eine ganze Reihe von Virus-Isolaten gewonnen. Und wir haben Erfahrung mit solchen Studien. Ich bin gerade dabei, für das MERS-Virus eine solche ähnliche Studie für die Veröffentlichung zusammenzufassen. Und da haben wir gesehen, dass auch das MERS-Virus sich in seiner Erscheinungsform verändert. So etwas machen wir jetzt für das SARS-2-Virus auch. Aber das sind Arbeiten, die dauern Monate. Das macht man nicht mal eben schnell, das ist mit großen Störfaktoren verbunden. Und man muss im Labor ganz genau hingucken und sich selbst dabei auch immer wieder überprüfen durch Kontrollexperimente – und darum dauert das Monate.
Wir haben zwar Labormethoden, aber das hinkt alles. Weil das ja epidemische Viren sind, können wir aber einfach gleich die Zahl der Infizierten zählen, das ist ein gutes Surrogat für Fitness.
Lokal haben wir noch keine Konkurrenz, aber in ein paar Monaten werden wir dasselbe Virus in ganz Deutschland haben, weil von anderer Stelle eine nicht beeinträchtigte Viruslinie dann das Feld übernehmen wird. Also leider sind wir, glaube ich, jetzt schon in einer Situation, wo dieser Nutzen des Gründereffekts kaum noch zu sehen ist.
Wir gehen hier davon aus, in unserer ganzen Diskussion, dass Viren miteinander konkurrieren, als wären wir in einer saisonalen Situation – als wäre die ganze Bevölkerung voller Virus, als wäre das Virus schon etabliert. Aber das ist es gar nicht. Wir haben hier frühe Übertragungsketten. Wir haben hier eine Situation, wo ein Virus aus einem Tierreservoir gekommen ist und jetzt seinen Verbreitungszug durch die Welt startet. Aber in all den Ländern, in die wir im Moment das Virus gerade eingetragen haben, sind das junge epidemische Geschehen. Und da ist noch gar keine Konkurrenz. Wenn ich infiziert werde und meine Frau infiziere, und die trägt es dann weiter an ihre Bekannte und die Bekannte wieder an ihren Mann und der Mann an drei Arbeitskollegen: Dann ist das ein Übertragungsbaum, den wir auf einem Blatt Papier noch nachzeichnen können. Und in meiner Familie und im Kollegenkreis, wo das Virus eingeschleppt wird, gibt es gar kein anderes Virus. Es gibt nur dieses, und dieses Virus kann bleiben oder verschwinden. Es gibt keine Konkurrenz mit einer anderen Viruslinie. Evolutionsbiologen haben für dieses Phänomen einen Begriff. Dieser Begriff heißt „Founder Effekt“, also Gründereffekt.
Korinna Hennig:
Wenn wir Infektionsketten weiter identifizieren können und isolieren, heißt das im Umkehrschluss dann, dass möglicherweise das Virus selbst dann auch an Fitness verliert?
Christian Drosten:
Das ist richtig, das ist die praktische epidemiologische Konklusion daraus, dass man sagt: Ja, es lohnt sich weiterhin, Infektionsereignisse zu rarifizieren. Aber leider muss man sagen, im Moment sind wir schon in so einer Situation: Wir hätten selbst in Deutschland schon jetzt an anderer Stelle sich verbreitende Virus-Linien, die dann das Feld übernehmen würden. In Wirklichkeit sind wir jetzt schon an einer Stelle, wo wir Konkurrenz zwischen Virus-Linien bekommen werden. Lokal haben wir noch keine Konkurrenz, aber in ein paar Monaten werden wir dasselbe Virus in ganz Deutschland haben, weil von anderer Stelle eine nicht beeinträchtigte Viruslinie dann das Feld übernehmen wird. Also leider sind wir, glaube ich, jetzt schon in einer Situation, wo dieser Nutzen des Gründereffekts kaum noch zu sehen ist.
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