Zitat:
Ein Super-Aufreger des Bundesgerichtshofs im Jahr 2011 (2. Strafsenat, Aktenzeichen 2 StR 375/11 [lies: 375 aus 11]). Sachverhalt: Deutschland, sechs Uhr morgens. Es ist noch düster. Die Vögel zwitschern. Durch die Grünanlage schleichen heran: ein Staatsanwalt, ein Sondereinsatzkommando. Weiträumige Absicherung des Einsatzes durch Schutzpolizei.
Einsatzziel: Festnahme des Bürgers A: "Sergeant at Arms" beim örtlichen Unterverein eines Clubs namens "Hell’s Angels" (Höllenengel!). Supercool. Ehrenkodex: Nie mit der Polizei kooperieren. Im Inneren: Spießigkeit in reinster Form; Männerehre: Niemand fasst meine Frau an oder meinen Zylinderkopf! Man fährt den Zweizylinder aus Milwaukee; vorne der Road Captain (Navi unterm Wehrmachtshelm), es folgen "President", "Sergeant at Arms" und "Vize President". Es gibt Members, Prospects, Supporters. Prospects müssen den Members jeden Gefallen tun (Auto Waschen, auf die Karre aufpassen, Frau bewachen, Zigaretten holen), und kriegen trotzdem eins aufs Maul, damit sie später wissen, wie schön es ist, mal nicht aufs Maul zu kriegen. Die Ernennung zum Member garantiert das Schikanierungsrecht gegenüber Prospects und eine Teilhabe am Gewinn der gemeinsamen Geschäfte. Der President ist eine Mischung aus Pate, Weihbischof und Majestix. Insgesamt: Kindlich, übersichtlich, aber effektiv. Business: Security, Türsteherei, Drogenhandel und Zuhälterei. Schutzgeld geht auch, Eisdiele nicht. Super spannende Sachen also, die den Normalbürger gruseln machen.
Die Polizei steht auf Höllenengel jeder Art. Das Schöne an ihnen ist: Ihre Tarnung ist systembedingt unzureichend. Man trägt "Kutten", also eine Uniformweste, auf der mit glitzernden Buchstaben geschrieben steht: "Panzerknacker AG, Mitglied Nr. 524". Das ist eine klare Ansage. Solche Feinde lieben Dagobert Duck und seine Freunde: Sie sagen So oder So; sie tragen Uniform; sie sind für oder gegen die Guten. Deshalb mag die Polizei die faschistischen Kameradschaften so gern, dass sie sie mit V-Leuten vollständig durchseuchen kann, ohne aufzufallen. Das ist ein psychologisches Phänomen, das der Erforschung durch die Wissenschaft noch bedarf.
Zurück zum Fall: Unser "Sergeant at Arms" (von Beruf Konditor) schlummert mit seiner derzeit Verlobten im Obergeschoss des umstellten Häuschens. Kürzlich hat man ihm ausgerichtet: Er solle umgebracht werden von Mitgliedern eines konkurrierenden Clubs gleicher Machart.
Die Polizei hat den Verdacht, der Sergeant könnte vor geraumer Zeit eine versuchte (!) Nötigung begangen haben. Das bietet Anlass, der Sache einmal in Mannschaftsstärke auf den Grund zu gehen. Anstatt mit dem Zugriff abzuwarten bis Herr A, wie jeden Morgen, aus seinem Haus auf die Straße tritt, oder einfach zu klingeln (Guten Morgen, Polizei) möchte man ihn mit einem Sondereinsatzkommando im Bett überrumpeln: Für was sonst hat man die Jungs? Man weiß, dass A mehrere von der Polizeibehörde genehmigte Waffen hat.
A erwacht durch Geräusche an der Eingangstür. Er nimmt seine Pistole und schleicht zur Treppe. Seiner Verlobten sagt er, sie solle telefonisch Alarm schlagen, weil er überfallen werde. Er schaltet das Licht im Treppenhaus ein und ruft: "Verpisst Euch!", denn er ist der Überzeugung, "Killer" machten sich an seiner Tür zu schaffen. Draußen bohrt das SEK-Mitglied X an der Tür herum, hinten stehen die Kollegen mit einer Ramme, der Staatsanwalt wartet in sicherer Entfernung. Auch als im Haus das Licht angeht und ihm das mitgeteilt wird, bohrt X weiter; drei von vier Riegeln hat er schon geknackt.
A denkt: Jede Sekunde kann die Tür aufgebohrt sein, dann dringen schwerbewaffnete Banditen herein, um mich zu töten. Also schießt er. Er zielt auf die Milchglasscheibe der Eingangstür, hinter der er einen Schatten sieht; die Folgen sind ihm egal. Polizist X, der in diesem Moment den Arm hebt, wird durch den Armausschnitt seiner Schutzweste zufällig tödlich ins Herz getroffen. Jetzt (!) rufen die anderen Beamten: "Polizei! Aufhören zu schießen!" A öffnet das Fenster, wirft seine Pistole heraus und ruft: "Seid ihr verrückt? Warum gebt ihr euch nicht zu erkennen?"
Dies – nach den Feststellungen eines deutschen Landgerichts – waren die Tatsachen. Ob sie genau so stimmen: Der Kolumnist weiß das so wenig wie alle anderen, die nicht dabei waren, aber eine "Rechtsmeinung" zu diesem Fall haben. Das Gericht, das über die Anklage wegen Totschlags gegen A entscheiden musste, hat sie so festgestellt.
Und das Landgericht hat gemeint: A sei zwar objektiv nicht in einer Notwehrlage gewesen, habe eine solche aber irrtümlich angenommen. Allerdings hätte er sich so verhalten müssen, wie diese fälschlich angenommene Notwehrlage es von ihm verlangt hätte: Er hätte zumindest zunächst einen Warnschuss abgeben müssen. Ergebnis: Verurteilung wegen vorsätzlichen Totschlags. Der Bundesgerichtshof hat auf die Revision des Angeklagten das Urteil aufhoben und den Angeklagten wegen Notwehr freigesprochen (2 StR 375/11, Urteil vom 2. Nov. 2011). Die Entscheidung hat, nicht nur unter Polizeibeamten, für Widerspruch und Empörung gesorgt.
Ohne Vögelgezwitscher:
Zitat:
Die Schwurgerichtskammer des Landgerichts hat den Angeklagten wegen dieses Geschehens wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das Landgericht hat angenommen, der Angeklagte habe zwar irrtümlich die Voraussetzungen einer Notwehrlage angenommen, er habe aber auch unter diesen Voraussetzungen nicht ohne Vorwarnung die tödliche Waffe einsetzen dürfen.
Der 2. Strafsenat hat die Verurteilung aufgehoben und den Angeklagten insoweit freigesprochen, weil auf der Grundlage der landgerichtlichen Feststellungen ein Fall strafloser Putativnotwehr gegeben war.
Rechtsprechung ist die irrtümliche Annahme einer Notwehrlage im Ergebnis ebenso zu behandeln wie ein Fall tatsächlich gegebener Notwehr. Danach muss der gezielte Einsatz einer lebensgefährlichen Waffe zwar grundsätzlich stets zunächst angedroht und ggf. auch ein Warnschuss abgegeben werden. Ein rechtswidrig Angegriffener muss aber nicht das Risiko des Fehlschlags einer Verteidigungshandlung eingehen. Wenn (weitere) Warnungen in der konkreten "Kampflage" keinen Erfolg versprechen oder die Gefahr für das angegriffene Rechtsgut sogar vergrößern, darf auch eine lebensgefährliche Waffe unmittelbar eingesetzt werden. Nach den für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des Landgerichts war hier ein solcher Fall gegeben. Im Augenblick – irrtümlich angenommener – höchster Lebensgefahr war dem Angeklagten nicht zuzumuten, zunächst noch durch weitere Drohungen oder die Abgabe eines Warnschusses auf sich aufmerksam zu machen und seine "Kampf-Position" unter Umständen zu schwächen.