Selbstverteidigung ist zu 75% Aufmerksamkeit und Deeskalation und nur zu 25% körperliches Handeln.
Letzteres sieht jetzt für den „Durchschnittsbürger“ auch nicht so aus wie im Kino, in dem man einen Angreifer schlägt oder tritt und er umfällt. Körperliches Handeln besteht in SelbstSCHUTZtechniken, die effektiv sind und leicht zu erlernen.
Was kann das sein?
Diese Techniken müssen mich in die Lage bringen handlungsfähig zu bleiben, wenn mir körperliche Gewalt angetan wird. Ich muss also lernen was passiert, wenn ich Schlägen, Tritten und Festhaltetechniken ausgesetzt bin und was ich tun kann, damit ich nicht sofort in den Überforderungsmodus komme.
Dabei geht es nicht darum den Gegenüber K.O. zu schlagen, sondern mich in eine Position zu bringen, in der ich die gefährliche Situation durch Flucht verlassen kann.
Das können Deckungsbewegungen sein, damit ich nicht ungeschützt getroffen werde, oder Bewegungsmuster, die mich in eine Position bringen, in der ich weglaufen kann. Eine andere Option wäre es noch legale Hilfsmittel einzusetzen, aber auch das muss man immer wieder üben.
Was genau bringen Kampfkünste jetzt für die Selbstverteidigung?
Unbewaffnete Kampfkünste setzen mich in jedem Training körperlicher Gewalt aus. Ich lerne wie es ist von Schlägen und Tritten getroffen zu werden (dafür muss ich aber auch eine Kampfkunst trainieren, die mit entsprechendem Kontakt übt). Ich lerne Hilflosigkeit und wie ich sie überwinde. Hilflosigkeit und Schmerz erzeugen Angst und durch die Noradrenalinfreisetzung, in Kombination mit gelernten Bewegungen, lerne ich sie zu überwinden.
Ich lerne meinen Gegenüber zu DOMINIEREN. Diese Dominanz ist das Ziel einer Kampfkunst. Aus der Dominanz der Situation kann ich aktiv handeln. Training ermöglicht es mir diese Dominanz auszuüben.
Wenn man jetzt noch den Umgang mit Klingenwaffen dazu nimmt, dann kann man das Ganze noch potenzieren, denn Klingen erzeugen noch einmal mehr Stress. Wenn ich unbewaffnet hartes Sparring brauche, um Hilflosigkeit und Angst zu simulieren bringen mich selbst stumpfe Klingenwaffen sehr schnell in den Zustand der Angst, da man sich einfach keine Fehler erlauben kann.
Aus diesem Grund trainieren viele traditionelle Schulen auch ohne große Schutzausrüstungen. Ich muss Angst haben getroffen zu werden. Es muss weh tun (aber eben nur so viel, dass man nicht dauerhaft verletzt wird).
Ein solches Training führt aber eben auch dazu, dass man lernt seiner eigenen Aggression Raum zu geben und lernt dem Gegenüber Gewalt anzutun (wenn auch kontrolliert). Richtig. Wenn ich lernen will mit Gewalt umzugehen, dann muss ich lernen Gewalt auszuüben und dafür muss ich mich mit Aggression auseinandersetzen.
Kampfkünste belohnen erfolgreiche Aggression mit Dopamin, dadurch lerne ich Gewalt zu akzeptieren und ihre Ausübung als etwas Gutes zu sehen. Das ist nichts für jedermann.
Aber auch Kampfkunst alleine reicht noch nicht aus, um sich wirklich effektiv verteidigen zu können denn es bedarf noch eines Punktes:
Den regelmäßigen Umgang mit realer Aggression und Gewalt.
Spätestens hier sind wir an dem Punkt, an dem so gut wie alle Durchschnittsbürger nicht mehr weiterkommen werden.
Regelmäßiger Umgang mit realer Gewalt findet entweder im behördlichen Umfeld, dem Militär, geschlossenen Einrichtungen, „an der Tür“, oder dem kriminellen Milieu statt. Nur dort kann man den Umgang mit Gewalt so trainieren, dass es etwas „Alltägliches“ wird.
Diese Gewöhnung ist der Schlüssel für das Ausbilden neuronaler Netze, die einen befähigen handlungsfähig zu bleiben, wenn man Aggression und Gewalt ausgesetzt ist.
Wirkliche Profis nutzen den Virus Angst und Gewalt um direkt in den Modus „aktiviert“ und „erregt“ zu gelangen. Bei Ihnen setzt es direkt Glutamat und Serotonin frei.
Diese Personen sind in aggressiven/gewalttätigen Situationen in einem Modus wie der Jäger/Sammler auf der Jagd: Aufmerksam, freudig erregt und ruhig. Sie sind „im Flow“ im Angesicht der Gewalt. Ihr Puls geht eher runter als hoch, sie werden ruhiger und nicht nervöser. Sie sind wie der Tiger vor der Beute: Sie dominieren ganz natürlich die Situation.
Es gibt genetische Voraussetzungen, und bestimmte Situationen vor und nach der Geburt, die unser Gehirn so verändern, dass es diesen Zustand einfacher erreicht. Man spricht bei Personen, die solche Veranlagungen haben, dann von Sensation Seekern, aber auch bestimmte Persönlichkeitsstörungen können sich daraus entwickeln. Es kommt immer darauf an, wie man mit den Veranlagungen umgeht, bzw. in welchem soziokulturellen Kontext man groß wird.
Auch dort, wo professionell mit Gewalt umgegangen wird, schaut man sich die Leute, die man dafür dort arbeiten lässt, sehr genau an und nicht jeder wird in eine solche Situation gelassen.
Die meisten Menschen haben jedoch eben nicht diese Veranlagung als Sensation Seeker und für sie besteht Selbstverteidigung in Aktivierung und Wahrnehmung und daraus resultieren dann das Erkennen und Zulassen von Angst. Für sie bedeutet „Gewaltkompetenz“ der Situation aus dem Weg zu gehen, bzw. so schnell und unverletzt wie möglich der Situation entkommen.
Professionelle Gewaltkompetenz geht, auf der anderen Seite, auch mit „Selbstverteidigungsfähigkeit“ einher, aber der Preis dafür ist eben auch das Akzeptieren und Trainieren der eigenen Aggression und der Fähigkeit anderen Menschen Gewalt anzutun. Man muss lernen andere Menschen zu dominieren. Das kann ein gefährlicher Weg für die eigene Psyche werden und das ist der Grund warum viele traditionelle Kampfkünste, ab einem gewissen Grad, eine Verbindung zu Religion und Philosophie haben. Wo Licht ist, ist auch immer Schatten.